Joseph Ratzingers TheologieDie Mitte und das Besondere des Glaubens: Ratzingers Erbe

Siegfried Wiedenhofer, Schüler von Joseph Ratzinger, legt eine grundlegende Würdigung von dessen theologischem Denken vor.

Über Jahrzehnte stand Joseph Ratzinger denkerisch „an der Front“, in Lehre und Forschung, in kirchlichen Ämtern bis hin zum Papstamt. Immer waren sein Denken und Verhalten von dem Wunsch nach Vermittlung geprägt, vor allem zwischen Glaube und Vernunft, zwischen Wahrheit und Geschichte. Sehr treffend hat sein – inzwischen leider schon verstorbener – Schüler Siegfried Wiedenhofer diese „integrale“ Denkform in seiner Gesamtdarstellung über Ratzinger herausgearbeitet und als große Integrationsleistung gewürdigt. Persönlichkeit und Biografie Ratzingers sowie kirchlicher und gesellschaftlicher Kontext sind dabei untrennbar, wie Wiesenhofer ausführlich und genau entfaltet. Die Frage, ob es einen jüngeren (fortschrittlichen) und einen älteren (konservativen) Ratzinger gibt, relativiert sich, denn es gibt durchgehende Denkformen, beispielsweise platonischer Art, und Argumentationslinien wie etwa das „katholische Und“. „Nicht ich habe mich geändert, sondern Zeit und Verhältnisse“, pflegt Ratzinger deshalb gerne zu sagen.

Durchgängig ist Ratzingers Bemühen, aus neuscholastischer und in diesem Sinne auch „kirchlicher“ Enge herauszukommen und das entschiedene Gespräch mit „dem“ Anderen zu suchen, also die wirkliche Katholizität zur Geltung zu bringen – und das mit Blick auf den Reichtum der ganzen Glaubensgeschichte und auf ihre oft fast vergessenen Schätze, wie auch im Hinblick auf die Zeichen der Zeit. Durchgängig ist dabei auch das Bewusstsein, in einer epochalen Krisensituation Christ zu sein und Theologie zu treiben. Für Ratzinger steht deshalb eine ständige Unterscheidung der Geister an, eine gleichermaßen aufgeschlossene wie abgrenzende Dialogsituation mit Neuzeit und Moderne. Dazu ist für den ehemaligen Papst der Glaube der ganzen Kirche und ihrer Geschichte zentral. Für ihn sind der Kirchenvater Augustinus und der Kirchenlehrer Bonaventura prägende Gestalten.

Intellektuell und spirituell

Immer ist bei Ratzinger das Bemühen um intellektuelle und spirituelle Redlichkeit im Spiel, die unterschiedene Einheit von Denken und Beten, von Spiritualität und Reflexion. Immer geht es Ratzinger in solch einer Konzentration auf das christlich Besondere um eine „theologische Hinführung zum Glaubensakt und zum Zentrum des Glaubens“. Diese zugleich meditative und integrative Theologie Ratzingers, die bewusst eine für alle zugängliche Sprache pflegt, kann jedoch, wo es um die Sache geht, ausgesprochen polemisch werden – sowohl theologisch als auch kirchenpolitisch. Das zeigte sich in seiner Auseinandersetzung mit Karl Rahner und Hans Küng, mit der Politischen Theologie und der Befreiungstheologie. Ratzinger treibt stets die Sorge um, die Mitte und das Besondere des Glaubens könnten beschnitten oder verkürzt werden. Dabei ist meist eine „Hermeneutik des Verdachts“ im Spiel, die den anderen mangelnde Rechtgläubigkeit unterstellt. Mit Feingefühl und Sympathie schildert Wiedenhofer die Größe von Ratzingers Theologie, legt aber deutlich auch auf diese Schwächen und wunden Stellen den Finger.

Das Fazit ist ein nachdenkliches. Ratzingers schöpferische und bedeutsame Glaubenstheologie der Vermittlung und Unterscheidung betont mit bleibendem Recht und heutzutage herausfordernd die unterschiedene Einheit von Vernunft und Glaube. Aber sie ist dann doch nicht integrativ genug. Es brauche im Sinne heutiger Pluralisierung „eine andere, eben differenziertere Gestalt von Integration“. Ratzingers Theologie, die sich durchaus beispielhaft im offenen Gespräch mit anderen um ein erneuertes Glaubensverständnis bemüht, nehme andere Positionen nicht ernst genug und konnte deshalb, verbunden mit der Macht des kirchlichen Amtes, auch unnötig polarisierend und sogar verletzend wirken.

Aber auch verletzend

In einer grundlegenden Orientierungskrise und -kontroverse wie der heutigen – und die zeigt sich im konziliaren Streit zwischen „Fortschrittlichen“ und „Traditionalen“ ständig – brauche es „streng wechselseitige (!) Kritik“, also auch Selbst-Infragestellung, wie Wiesenhofer unterstreicht. „Dazu bedarf es zuerst der grundsätzlichen Anerkennung der Pluralität und Komplementarität der Theologie“ – und das nicht, um die Wahrheitsfrage zu verabschieden, sondern ganz im Gegenteil, um sie entschieden wie unterscheidend, aber argumentativ zur Geltung zu bringen. Dazu müsse man sich in die Gedankenwelt und Position der Anderen wirklich hineinversetzen und deren (ebenfalls begrenzte) Wahrheitserkenntnis in die eigene Auffassung einbeziehen, was etwa im Streit um die Befreiungstheologie (und auch Drewermanns Symboltheologie) nicht gelungen ist.

Diese feinfühlige, großartige Gesamtwürdigung, sicher zunächst für Theologenschaft und Fachleute gedacht, ist eine anregende Fundgrube auch für interessierte Laien und mit Sicherheit das Beste, was derzeit zum Verständnis des Lebenswerkes von Ratzinger und dessen kritischer Fortschreibung zu lesen ist.

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