Wenn Parteien die Wählergunst entzogen wird, versuchen sie, mit modernen, „progressiven“, populistischen Themen Stimmen zu gewinnen – und setzen häufig auf die Karte des Lobbyismus. So hatte die SPD vor der letzten Bundestagswahl faktisch mit der Koalition, mit den christlich bestimmten Unionsparteien, gebrochen, indem sie im Hauruckverfahren mit der Opposition die sogenannte „Ehe für alle“ durchsetzte. Nachdem die Sozialdemokraten katastrophal abgestürzt sind, versuchen sie erneut, sich an solch einem Thema zu profilieren. Vor allem Frauengruppen wollen das Werbeverbot für Abtreibungen, den Strafrechtsparagrafen 219a, zu Fall bringen. Ein Beschluss des Parteivorstands verlangt laut Evangelischem Pressedienst, „die erforderlichen Maßnahmen umgehend zu ergreifen“. Wenn Gespräche in der Koalition nicht zum Erfolg führten, müsse mit „reformwilligen“ Fraktionen oder Abgeordneten außerhalb geredet werden. Das läuft darauf hinaus, die akute Schwächephase auch von CDU und CSU zu nutzen, um ideologische Restbestände politisch zu verwirklichen, gar der Koalition den Rest zu geben.
Im Bewusstsein der breiten Bevölkerung spielt es keine Rolle mehr, dass Abtreibung als Tötung menschlichen Lebens Unrecht ist, das nur nicht mehr bestraft wird. Hat Christliches, jedenfalls das, was einmal im Konsens als christlich moralisch galt, keine Chance mehr, Mehrheiten zu finden? Interessant ist, ob die „C“-Debatte im innerparteilichen Wettbewerb der CDU um den Vorsitz und eine Kanzlerkandidatur inhaltlich überhaupt noch gefüllt wird jenseits der nebulösen, vagen Bekundungen, dem „christlichen Menschenbild“ treu zu bleiben. Unter den Getauften selber, zwischen den Konfessionen, diffundieren die einst klaren ethischen Haltungen und sogar der Glaube an die Auferstehung der Toten als „Markenkern“. Heißt christliche Politik zum Beispiel, den vom Bundesverfassungsgericht seit Langem geforderten Lastenausgleich für Familien zu schaffen? Oder bedeutet es gemäß der Friedens- und Gerechtigkeitsverheißung Christi, Rüstungsexporte radikal zu verbieten, den extrem ungleichen Vermögensverhältnissen entgegenzuwirken, gar Grenzen für alle zu öffnen, die Not leiden?
Was macht christliche Identität im Glauben wie in der Moral aus, unterscheidend zu anderen und anderem? Wie weit reicht der Konsens darüber in der Gesellschaft wie in den Kirchen? In der evangelischen Theologie, im Kirchenverständnis wurde die Lehre vom „Status confessionis“ entwickelt. Gemeint ist ein Bekenntnisnotstand, ein besonderer, außergewöhnlicher Bekenntnisfall, in dem christlich Farbe zu bekennen ist, um die Gemeinschaft im Glauben zu wahren. Christliche Politik? Warum? Wozu? Wie? Wesentliche Fragen drängen sich wieder auf.