Glaube und NaturwissenschaftDie Religion im Licht der Evolution

Die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und die Glaubensvorstellungen widersprechen sich nicht, wenn jeder seine Grenzen beachtet. Diese schiedlich-friedliche Koexistenz von – getrennten – Parallelwelten wird in kirchlichen Kontexten gern beschworen. Wer jedoch in die Tiefen der einen rätselhaften Welt, die Glauben und Wissen umfasst, hinabtaucht, wird ungemütlich der Gottesfrage ausgesetzt.

Es gibt kein Zurück hinter die Erkenntnis der Evolutionsbiologie, dass die Geschichte des Lebens als Manifestation eines großen, umfassenden Werdeprozesses zu verstehen ist, der immer Neues aus sich heraus hervorbringt. Diese weitreichende Einsicht in eine dynamische Welt des Werdens, in die Evolution, zuerst akribisch belegt an der Variabilität der biologischen Arten, verdanken wir bekanntlich Charles Darwin. Er hat das entsprechende Werk nach langem Zögern 1859 der Öffentlichkeit vorgelegt: „On the origin of species by means of natural selection, or the preservation of favoured races in the struggle for life“ (Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung oder Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um’s Daseyn; deutsch 1860). Für Darwin ist alles Leben Variation innerhalb bestimmter Populationen und Selektion, Anpassung an bestimmte Lebensbedingungen, also „eine natürliche Zuchtwahl“, wie er schreibt, „die ihrerseits die Divergenz der Charaktere und das Aussterben minder verbesserter Formen im Kampf um Überlebensvorteile veranlasst“.

Was Darwin richtig erkannte

Darwin beschrieb eine Welt, besonders alles Lebendige einschließlich des Menschen, die zunächst einmal aus der Naturgeschichte zu verstehen ist. Es ist eine Welt, so wird gerne festgehalten, die in ihrem Werden und Gewordensein ohne „Gottes Handeln“ – wie es traditionell hieß – und ohne einen göttlichen Plan auskommt. So zumindest mussten damals seine Aussagen verstanden werden, und so lassen sie sich bis heute verstehen. Darwins Evolutionstheorie hat seit ihrer Veröffentlichung bekanntermaßen zwar endlose, oft sehr kontroverse Diskussionen hervorgerufen, kann aber heute trotz vieler offener Fragen und Mängel – ausgedrückt in Titeln wie: „Wo Darwin irrte“ oder „Abschied vom Darwinismus“ – wissenschaftlich in der Grundrichtung als bestätigt angesehen werden. Sie hat sogar den Charakter einer „Theorie für alles“ bekommen, die den Begründer der Synthetischen Theorie und großen Evolutionsbiologen Theodosius Dobzhansky (1900–1975) zu der seitdem vielzitierten Aussage brachte, nichts ergebe Sinn, „außer man betrachtet es im Lichte der Evolution“, zuerst formuliert 1963/64.

Das darwinische Denken mit seiner oft provozierenden Leidenschaft, auch den Menschen radikal aus seiner Naturgeschichte zu verstehen, zielt auf Weltanschauung. Es greift mit der Verankerung des Menschen in seinen naturgeschichtlichen Wurzeln fraglos tief in das traditionell fest verwobene abendländisch-christliche Menschenbild ein. Mehr noch: In Darwins Folge wird eine argumentative Schlüssigkeit spürbar, die biologischen, naturgeschichtlichen Wurzeln des religiösen Verhaltens selbst in seiner großen Vielfalt zu erforschen. Damit jedoch wird das Fundament allen religiösen, kirchlichen, christlichen Redens und Denkens unmittelbar berührt. Denn wirklich bedrängend kann es für die Theologie dort werden, wo Religion allgemein als eine in erster Linie evolutionäre, biologische Überlebensstrategie gekennzeichnet wird: Was im Laufe der Religionsgeschichte keinen Nutzen im Überlebensprozess hatte und hat – so die These des Soziobiologen Edward O. Wilson –, sei auch in der Geschichte der Menschheit wieder verschwunden.

Gott im werdenden Bewusstsein

Überlebt hat nur, was die menschliche und menschheitsgeschichtliche Fitness aufs Höchste gesteigert habe. Die religionsbegründeten Nutzungsfunktionen muss man nicht lange suchen, sie scheinen sich seit den religiösen Urzeiten über archaische Fruchtbarkeits- und Beschwörungsrituale, Mond- und Sonnenkulte – vieles aus der vorschriftlichen Zeit ist allerdings kaum beweisbar und bleibt Spekulation – relativ leicht entfalten zu lassen. Allzu schnell bleibt dabei jedoch unberücksichtigt, dass historisch ausgestaltete, fortgeschrittene religiöse Systeme eine Vielzahl komplexer, reflektierter Inhalte und kultureller Impulse enthalten, die in einem erkennbaren Austausch von Ablehnung und Aufnahme naturgeschichtlicher Ursprungsfunktionen stehen und diese überlagern.

Das Provozierende der natur- und stammesgeschichtlichen Annäherung an religiöses Verhalten seit der vorgeschichtlichen Zeit von Homo sapiens scheint mir letztlich in der Formel von einem „Werden Gottes/der Götter im Werden der Welt und des menschlichen Bewusstseins“ zu liegen. Womit sich die Frage stellt: Gibt es im langen evolutionären Werden und Gewordensein religiöser Inhalte irgendein tragfähiges Gegenüber, das im Prozess des Auftauchens, Sich-Entwickelns und Bewährens und erneuten Verschwindens noch bleibend gültig sein könnte, also dem Menschen einen Halt gibt in den Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Zeiten und des Lebens? Ist dieses Vertrauen auf ein übergreifendes Gegenüber nicht nur ein Produkt des mythenbildenden menschlichen Bewusstseins? Wenn ja, was wäre dann „Bewusstsein“ als eine offensichtlich neu auftauchende Systemeigenschaft der Evolution, das zu solcher Mythenbildung im Prozess der kulturellen Evolution befähigt wurde?

Wenn man so will, kann das damit angedeutete große Themenfeld als das einer „Evolutionären Religionstheorie“ bezeichnet werden. Ganz neu ist das nicht, weder begrifflich noch inhaltlich, wenn auch das Interesse in Kirche und Theologie ziemlich begrenzt ist, leider. Man überlässt es, oft in Unkenntnis naturwissenschaftlicher Fragen, einigen Spezialisten. Umso erfreulicher ist es, dass sich Naturwissenschaftler selbst immer wieder um die offenen Fragestellungen bemühen, nicht in jedem Fall allerdings auf dem Stand einer reflektierten, aufgeklärten Theologie. Es sind oft auch die Vertreter eines Neuen Atheismus, die sich mit gewagten und anregenden Büchern und Thesen Gehör verschaffen, auch manche entschiedenen Agnostiker, aber auch solche, die sich persönlich sehr offen gegenüber religiösen Fragen, wenn auch kritisch-engagiert, zu Wort melden, so zum Beispiel der Physiker, Wissenschaftshistoriker und Publizist Ernst Peter Fischer, der Neurogenetiker Paul Gottlob Layer, die Physiker Jürgen Schnakenberg oder Arnold Benz, der Neurobiologe Robert-Benjamin Illing oder auch der Philosoph Holm Tetens und natürlich noch etliche andere. Hier sei nur auf die auffälligen neuen Arbeiten des Physikers Gerhard Vollmer und des Evolutionsbiologen Carel van Schaik in zwei breit angelegten Werken kurz hingewiesen.

Bloß gut zum Überleben?

Gerhard Vollmer hat für sein Buch den von Theodosius Dobzhanskys Zitat angeregten Titel „Im Lichte der Evolution. Darwin in Wissenschaft und Philosophie“ (Stuttgart 2017) gewählt. Für den Autor, selbst Mitbegründer einer evolutionären Erkenntnistheorie, ist „Evolution das tragende Element des modernen Weltbildes“, was er an über fünfzig Einzelbereichen von der evolutionären Anthropologie über die evolutionäre Genetik und evolutionäre Rechtstheorie bis hin zur Sprachwissenschaft, Wirtschaftstheorie usw. kenntnisreich und durchaus sehr spannend darzulegen vermag. Auch Religion mit einer evolutionären Religionswissenschaft und einer – getrennt davon – evolutionären Theologie wird behandelt und sollte eigentlich die Fachtheologie zu Antworten verführen: „Religiosität hat sich in der biologischen Evolution des Menschen herausgebildet“, lesen wir, wobei es Vollmer offenlässt, was denn nun Religion eigentlich sei. Glaube an etwas Übersinnliches, Übernatürliches, Absolutes, Heiliges, Ewiges und so fort? Schneller noch als erwartet kommt Vollmer zum naheliegenden Erklärungsmodell „Nützlichkeit“. Bietet Religion einen Selektionsvorteil?

Lässt sich mithin Religion, voll erklärt, auf ihre Überlebensfunktionen reduzieren und isoliert von dem betrachten, was sie seit einem dunklen Beginn vielleicht schon im Tier-Mensch-Übergangsbereich an kulturellen Potenzialen, deren Nützlichkeit nur mühsam in den Vordergrund zu bringen ist, sichtbar werden lässt? Zumindest seit den frühesten Dokumenten, die der Forschung zugänglich sind – und die reichen derzeit kaum mehr als 40000 Jahre zurück –, verbinden sich religiöse Elemente eng mit Kunst und Musik, später auch mit der Poesie, seit mehreren tausend Jahren auch mit dem wachsenden Wissen über die Welt, mit der Weisheitsliteratur, der Philosophie. Mag es auch stimmen, dass die – so der Soziobiologe und Philosoph Eckart Voland – „transkulturelle Universalie Religion“ immer wieder einen Vorteil fürs Überleben zeigt, so hat diese doch zugleich früh eine Eigendynamik und innere Differenzierung entfaltet, die sich in sich selbst fortentwickelt. Der evolutionäre Nutzen wird von Charakterisierungen überlagert, die etwas mit Schönheit, Freude, Spaß am Spiel, Fest, Feier und Ähnlichem zu tun haben. So lässt sich etwa fragen: Erklärt die Bereitschaft des menschlichen Gehirns, Beziehungen zu fiktionalen Gestalten herzustellen, um sich durch diese religiös und illusionär zu stärken, wie der Kognitionsforscher und Religionsphilosoph Pascal Boyer in seinem Buch „Und Mensch schuf Gott“ schreibt, die Fähigkeit und Lust des Menschen, Psalmen zu formulieren, gregorianische Gesänge zu singen oder die Matthäuspassion zu komponieren? Wo liegt hier der Selektionsvorteil, der evolutionäre Nutzen? Theologisch noch brisanter könnten Grenzfragen wie die sein, ob das darwinische Denken überhaupt die Vorstellung von einem Gott als bleibendem, unveränderlich Halt gebendem Gegenüber zulässt? Ist ein „Gott im Werden“ nicht das Ende jeder Theologie, so auch Vollmer?

Als der Mensch sesshaft wurde

Gegenfrage: Warum sollte „G-o-t-t“ – sagen wir einmal als das Innerste und das Äußerste des Menschen – nicht im Werden des Menschen und der Menschheit durch die Zeiten, bildlich gesprochen, „wachsen“ und sich jeweils neu „entfalten“? Warum sollte dieses/dieser Andere seiner – des Menschen – Selbst, das Um- und Übergreifende, der sowohl ganz ferne, alles überschreitende Hintergrund wie auch die in jeder personalen Begegnung unmittelbar präsente Erfüllung des Lebens nicht auch im evolutionären Werden des Menschen, jeweils der Zeit folgend, erfahrbar sein? Ist der Begriff der „Unveränderlichkeit“ (Gottes) nicht eine unangemessene dogmatische Kategorie, die in der Begegnung mit dem evolutionären Denken an Plausibilität verliert? Die Theologen müssten sich darüber einige hilfreiche Gedanken machen. Des Naturwissenschaftlers Aufgabe wäre es sicher nicht.

Theologische Überlegungen aus evolutionsbiologischer Perspektive machte sich jüngst der Zürcher Evolutionsbiologe Carel van Schaik, unterstützt von dem Literaturwissenschaftler Kai Michel. Beide haben ein durchaus herausforderndes großes Werk unter dem Titel „Das Tagebuch der Menschheit – Was die Bibel über unsere Evolution verrät“ (Hamburg 2016) vorgelegt. Unter breiter Berücksichtigung des in den historisch-kritischen Wissenschaften diskutierten Materials wollen die Autoren in der – wie sie sagen – „verborgenen Bibel“ „intime Kenntnisse“ über die menschliche Evolution herausgearbeitet haben. Es ist ihnen gelungen, wenn auch zum Befremden derer, die das „heilige“ Buch bisher als überzeitliches Zeugnis eines handelnden und sich offenbarenden Gottes zu lesen gewohnt waren.

Nicht neu, aber doch ungewöhnlich klingt bereits die erste Aussage: „Der Gott, der monotheistisch werden sollte, befand sich während der Bibelniederschrift noch weitgehend in der Entwicklungsphase“. Er habe als „einer unter vielen begonnen“, was heute jeder historisch geschulte Alttestamentler kaum bestreiten dürfte. Aber das ist nicht der Brennpunkt der entschlossenen evolutionären Annäherung an die Ursprünge der drei abrahamitischen Religionen. Vielmehr wollen die Autoren zeigen, dass die Bibel in ihrer Vielfalt und mit einer tausendjährigen Entstehungsgeschichte als ein Dokument der Überlebensstrategie von Homo sapiens zu verstehen sei. Sie erweise sich als ein vielgefächertes Zeugnis des Menschen, seitdem dieser nach der epochalen Sesshaftwerdung vor etwa 10000 Jahren mit einzigartigen Herausforderungen fertigwerden musste. Als Ackerbauer und Viehzüchter stand der Mensch, nachdem er sich hunderttausende von Jahren mit der Jagd und als Sammler von Wildfrüchten und Wildpflanzen jeglicher Art in überschaubaren Gruppen ernährt hatte, damals vor der größten Verhaltensänderung seiner bisherigen Geschichte. Die „Neolithische Revolution“ gilt als der am tiefsten wirkende Einschnitt in der Vorgeschichte des Menschen. Der vom Archäologen Vere Gordon Childe in den dreißiger Jahren geprägte Begriff ist zwar heute umstritten, unter anderem weil „Revolution“ einen allzu abrupten Übergang nahelegt, nicht aber die Tatsache.

Der anatomisch neuzeitliche Mensch – also jeder von uns – war evolutionär schlecht auf diesen kulturellen Umbruch, auf Seuchen, neue Gewalt, Katastrophen vorbereitet. Die Bibel ist für Schaik und Michel eine „anthropologische Kostbarkeit“, die in immer neuen Varianten zeigt, „was Homo sapiens seiner Fähigkeit zur kulturellen Evolution zu verdanken hat“ und wie er mit der evolutionären Katastrophe der Sesshaftwerdung fertigzuwerden versuchte. Seine „erste Natur“, die, mit einer natürlichen Moral versehen, genetisch tief verankert ist, habe ihn nicht dazu befähigt. Es sei vielmehr die Religion in vielerlei nützlichen Ausprägungen gewesen, die unsere Vorfahren fit machte, sich auf eine neue Welt einzurichten, die gezwungen, ungewollt und evolutionär viel zu plötzlich über sie hereingebrochen war. Wie dies gelang, zeigen die beiden Autoren überzeugend Schritt um Schritt.

Die Feuerbach-Wunde

Mag dies anregend oder mehr als dies sein, so ist für den hier angesprochenen Kontext einer Evolutionären Religionstheorie die leitende Botschaft des Buches wichtiger: „Gott durchlief eine Entwicklung“. Die Verfasser verweisen ausdrücklich auf den mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Bestseller des Religionskritikers Jack Miles, „Gott – eine Biografie“ (1996), in dem sich „Gott“ von einer jähzornigen, destruktiven Person über die Jahrhunderte hinweg – sehr spät – zu einer barmherzigen Gestalt entwickelt. Das alles ist durchaus für die Theologie hochprovokant und für nicht wenige voller Beunruhigung.

Warum? Weil hier eine nur schwach verheilte Wunde berührt wird, die mit dem Namen Ludwig Feuerbach (1804–1872) und all jenen verbunden ist, die dem radikalen, neuzeitlichen Weg von der Theologie zur Anthropologie folgen: Redest du von Gott, dann redest du vom Menschen. „Nicht Gott schuf den Menschen …, sondern der Mensch schuf Gott.“ Gott in Christus – „ein Produkt und Objekt des übernatürlichen Gemütes“, so Feuerbach in seinem „Wesen des Christentums“ (1841). Das war für viele einleuchtend, und es wirkt über Marx und Nietzsche bis in unsere Zeit.

Und weiter zu Aspekten, die Gott und die Götter, die religiösen Bilder und Überzeugungen in der Art und Weise suchen, wie der Geist des Menschen funktioniert, so Pascal Boyer in seinem Buch „Und Mensch schuf Gott“. Es ist die unglaubliche Komplexität unseres evolutionär entstandenen Gehirns – das wussten Feuerbach und seine Nachfolger noch nicht –, auf der religiöse Erfahrung gründet. Gemeint ist wohl eine Urerfahrung, Religion sozusagen pur, die die verschiedensten Bedürfnisse des menschlichen Geistes in dessen evolutionären Entwicklungsstufen erfüllt, die Sehnsucht nach einer Scheinwelt, nach einer mächtigen fiktionalen Gestalt, nach Illusionen, um getröstet und vertröstet zu werden oder wie auch immer durch die Zeiten hindurch bestehen und überleben zu können.

Höhenflug Sprache

Was weniger bei der Betrachtung des evolutionsbiologischen und neuronalen Ausgangspunktes der Religion im Blickfeld zu liegen scheint, ist das zunächst uneingelöste Potenzial dieses Urphänomens. Mag es den Menschen unzweifelhaft beruhigen und trösten, so regt es ihn zugleich dazu an, seine erfahrene Welt und das Leben in ihr immer wieder neu und anders zu erklären, zu beschwören und auch zu bezwingen; sich selbst und die Welt vor einem größeren Ganzen zu sehen; sich ein Bild von dem zu machen, was war und ist und sein wird, also einer protophilosophischen, rationalen Dynamik zu folgen, die sich selbst weiterentwickelt, ohne am Startpunkt bereits greif- und nachweisbar zu sein. Wie sollten sich sonst Kultur, die vielfältigen kooperativen Übergänge und Rückkoppelungen von Natur und Kultur verstehen lassen, wenn man Homo sapiens, was seine schlichten religiösen Urerfahrungen betrifft, auf ein ziemlich niedriges religiöses Niveau zurückstuft? Sollte er nur von unten, darwinisch aus seinem „niedrigen Ursprung“ zu verstehen sein, so ist ihm im Laufe der Evolution – ob zufällig oder auch nicht – eine Dimension und neue Qualität zugewachsen, die ihn noch auf einer anderen Ebene verankert – sicher nicht so einfach „von oben“, aber doch so, dass er beginnt, sich selbst als ein sich selbst erkennendes Subjekt zu begreifen und zu beschreiben. Die Evolution hat ihm in der bereits im Vormenschlichen angelegten Befähigung zu einer Sprache offensichtlich einen Weg ermöglicht, auf dem er ein „Kulturgenerator ersten Ranges“ wird, so der Ägyptologe Jan Assmann. Vielleicht sogar ein Weiser, ein wirklicher Homo sapiens sapiens.

Aber es muss noch etwas Neues dazugekommen sein, eine neue, nicht mehr von den Ursprüngen allein ableitbare Qualität. So hat Homo sapiens mit der Evolution einer Sprache mehr als ein Instrument des Informationsaustauschs erhalten. Er errichtet sich mit dem Wort, der Kombination von Zeichen, mit Begriffen, in denen Erfahrungen überliefert werden können, eine zweite Welt, die einen einzigartigen kulturellen Höhenflug der Evolution eröffnete. Es ist eine Sprache, die ihn auch dazu befähigt, Gottes- und Götterbilder „zur Sprache zu bringen“. Nicht zuletzt kann es sogar paradoxerweise eine Sprache ohne Begriffe sein, worin die Befähigung zur Mystik begründet sein könnte.

Der evolutionsbiologisch geschärfte Blick, wie von Carel van Schaik gezeigt, auf die alten religiösen Zeugnisse, die den Prozess zwischen Natur und Kultur vielfältig belegen, erweitert unser Wissen über das, was wir als „Religion“ bezeichnen, erheblich: Homo sapiens schafft sich im Fortgang seiner Geschichte und mit einem wachsenden Bewusstsein von sich selbst, mit seiner diskursiven Sprachfähigkeit Symbole, Götter, Idole, Gottesbilder: „Gott hat eine Entwicklungsgeschichte.“ Ja. Es ist wohl unbestreitbar, dass sich „Gott“, wie er sich in der geschichtlichen Vielfalt der Gottesbilder präsent macht, in und mit der kulturellen Evolution des Menschen verändert. Aber muss damit die Gewissheit eines tragenden, sich selbst fortentwickelnden Grundes passé sein?

Ich denke, ohne eine theologische Akzeptanz eines Werdens Gottes auch im Werden des Menschen, ohne Würdigung der hohen Produktivität des Menschen bei seinen Gottes- und Göttervorstellungen und damit ohne Hinnahme schließlich des Projektionsverdachtes wird es mit der Glaubwürdigkeit und Anschlussfähigkeit der alten Gottesrede heute schwierig. Ohne diesen Sprung sozusagen über (den) Feuerbach wird es nicht gehen. Religion ist in der Tat auch eine Widerspiegelung der langen kognitiven Evolution des Menschen. Hier gibt es kein Zurück, bestenfalls ein geschäftiges Übersehen. Dennoch ist Religion mehr als ein „Nichts anderes als nur …“, also als eine naturgeschichtlich gesteuerte Projektion. Besonders dann, wenn die Befähigung zu einer symbolischen, diskursiven Sprache den Menschen hinter der mythenbildenden Energie und Einbildungskraft seines evolutionär konditionierten Gehirns etwas Anderes und Übergreifendes, das Andere seiner selbst, das er nicht selbst ist, vermuten und fordern lässt.

Im „Vorhof des Einen“

Vielleicht könnte bei diesem Versuch, Religion in ihren ambivalenten Potenzialen nicht zu eng vorrangig und allein nur aus ihrer Naturgeschichte zu verstehen, auch wieder einmal ganz traditionell die Philosophie beachtet werden. Hier in der Kürze und nur als Beispiel ein Hinweis auf den Heidelberger Philosophen Jens Halfwassen. Er möchte, dem Stand der Philosophie seit Platon folgend, die Gottesfrage nicht dem mythenbildenden Potenzial des Menschen unterworfen sehen, sondern den Monotheismus radikal als absolute Transzendenz des Einen verstanden wissen, als Urgrund des Ganzen, als das ganz Andere, Unbenennbare und Namenlose: „Alle historischen Religionen, auch die monotheistischen, bleiben im Vorhof des Einen“, so Halfwassen in der „Frankfurter Allgemeinen“ (15. März 2017). Bereits die griechischen Philosophen – Halfwassen will es sogar schon bei dem Vorsokratiker Xenophanes erkennen – setzten „gegen die bloß eingebildeten Götter des Mythos den wahren Gott, der ganz anders ist als alle menschlichen Vorstellungen und genau deshalb dem Projektionsverdacht nicht ausgesetzt ist“. Von dem Einen, Letzten, Absoluten lasse sich letztlich nur sagen, was er nicht ist. Davon hätten auch das Christentum, das Judentum und der Islam immer wieder einen Impuls bekommen, der ihre Neigung als historische Religion zu einer anthropomorphen Sprache zurückgedrängt hätte. Besonders die Mystik habe von dieser „negativ-theologischen Tradition“ gelebt. Schließlich sei dies auch die beste Immunisierung gegen die „schreckliche Regression des Fundamentalismus“. Mit Recht erinnert Halfwassen daran, dass die monotheistischen Religionen „eine umso friedlichere Zukunft haben, je mehr sie sich auf ihre mystischen und negativ-theologischen Traditionen besinnen“.

Also kein Zurück hinter das darwinische Denken und Erkennen? Auch wenn die Gewichtung einer evolutionär-naturalistischen Sicht auf den Menschen und seine Herkunft, nicht zuletzt seiner Religion, viele offene Fragen enthält? Das philosophische Denken mag behilflich sein, wenn man, wie etwa bei Halfwassen, einer negativen Theologie in ihrer doch sehr schnell kalt abweisenden Distanz zu den historischen Ausgestaltungen der unterschiedlichen Religionen nicht vollinhaltlich folgen muss. Immerhin: Wer die alten philosophischen Fragen nach dem Ganzen der Wirklichkeit auf seinen Erkenntniswegen nicht von vornherein ausschließt, wer zudem die Berechtigung einer auch subjektiven Sicht, einer Ich-Perspektive neben der wissenschaftlichen Beobachter-Perspektive nicht prinzipiell aussondern möchte, wer schließlich mit seinem Glauben das naturwissenschaftliche Wissen nicht einfach vergessen will, wird gegenüber schnellen und provozierenden Positionierungen einen pluralistischen Zugang anstreben müssen – also unterschiedliche Zugangswege zulassen, die miteinander in Verbindung stehen und sich nicht ausschließen. Reduktion auf die Naturgeschichte ist nicht immer falsch, und Reduktion ist auch nicht immer richtig, erklärt uns die Komplexitätsforscherin Sandra Mitchell („Komplexitäten. Warum wir erst jetzt anfangen, die Welt zu verstehen“, 2008). Die Naturgeschichte des Menschen und seiner Religion und der dynamische, bereits im Vormenschlichen angelegte Prozess der kulturellen Menschwerdung und religiös-philosophischen Selbstdefinition von Homo sapiens gehören zusammen.

Nach dem, was wir spätestens seit Charles Darwin über das Potenzial einer in der kreativen Dynamik der Zeitlichkeit verankerten, hochkomplexen und – ja auch – wunderbaren Werdegeschichte als „Evolution“ wissenschaftlich zu beschreiben beginnen, wird man auf einfache Antworten und einlinige Thesen eher skeptisch reagieren müssen, gerade auch bei dem „Urphänomen Religion“. Insofern möchte ich zum Schluss einer theologischen Frage nicht ausweichen: Wäre es nicht an der Zeit, die „Evolution Gottes“ und die „Evolution des Menschen“ – einfacher und angreifbarer: „Gott und das Leben“ – doch enger zusammenzusehen, ohne sie als identisch zu betrachten und damit zu neu­tralisieren? Auch darüber könnte zwischen den Naturwissenschaften und einer Religion, die sich den Herausforderungen der Aufklärung stellt, ein grenzüberschreitendes neues Gespräch geführt werden.

Der Text ist enthalten im Buch „Gott? Die religiöse Frage heute“, herausgegeben von Johannes Röser zum siebzigjährigen Bestehen des CIG, mit Beiträgen von 135 Autorinnen und Autoren (Verlag Herder, Freiburg 2018, 416 S., 28 €).

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