Es geht unter anderem um scharfe Beleidigungen, Schüler-Mobbing, Angriffe auf Rabbiner und jüdische Restaurants, Verunglimpfung von Juden im Internet. Wer die Dokumentation antisemitischer Hetze und Straftaten aus diesem Jahr liest, die das „Zeit Magazin“ aufgelistet hat, ist beschämt. „Im Jahr zuvor zählte man 1504 antisemitische Delikte, davon 37 Gewalttaten.“ Johannes Heil, Rektor der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, hatte in dieser Zeitschrift erklärt: „Heute hat sich der Stammtisch globalisiert. Vorurteile und Judenhass sind auch nicht mehr nur in randständigen Medien zu finden, sondern treten offen zutage“ (CIG Nr. 21, S. 226).
Seit siebzig Jahren versuchen Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, diesem Skandal entgegenzutreten. Sie engagieren sich in Versöhnungsarbeit, schlagen Brücken, versuchen, die Beziehungen beider Religionen zueinander zu klären, um das Gift antijüdischer Denkmuster aus den Kreisläufen der Gesellschaft zu entfernen. Dabei eint besonders die Christen der Nachkriegsgeneration die Empörung über die Schoah und über den mangelnden Widerstand der Kirchen, der eigenen Glaubensgemeinschaft gegen diese Verbrechen. Gibt es eine Versöhnung und Theologie nach Auschwitz? Der evangelische Theologe Martin Stöhr hat es einmal so formuliert: „Kain versucht einen Dialog nach Abels Ermordung.“
Soeben hat der Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken die Pfarrgemeinden aufgefordert, endlich eine eigene Erinnerungskultur zu schaffen, zum Beispiel mit einem gemeinsamen Glockenläuten am 9. November zur Gewissenserforschung angesichts der Reichspogromnacht von 1938. Die Dialogbemühungen „Kains“ sind weiterhin eine Aufgabe der Christen in unserem Land. Was aber bedeutet das fürs Denken, für die eigene Identität in einer Zeit, in der das christliche Selbstverständnis geschwächt ist durch Glaubenserosion, Kirchenaustritte, Missbrauchsskandal sowie die schrumpfende gesellschaftliche Bedeutung des Glaubens ganz allgemein? Was kann der Blick auf die jüdische Wurzel bewirken?
Die anhaltende Treue Gottes
Im siebzigsten Jahr des Bestehens der verdienstvollen Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, 47 Jahre nach der Gründung des Gesprächskreises „Juden und Christen“ (jüdisch-katholisch) sowie vierzig Jahre nach der Einrichtung der Konferenz der landeskirchlichen Arbeitskreise Juden und Christen (jüdisch-evangelisch) hat sich seit diesem Sommer ein theologischer Streit entsponnen, der mitten hineinreicht in die Frage nach christlicher – und jüdischer – Identität. Dieser Konflikt bringt Gewissheiten zum Wanken und hat Irritationen und Verunsicherung ausgelöst, was auch nach den Motiven der Kontrahenten fragen lässt, hieß es von verschiedenen Seiten. Um was geht es genau?
Auslöser der Kontroverse war ein Aufsatz in der Zeitschrift „Communio“ (Juli/August), den der ehemalige Papst Benedikt XVI. verfasst hat: „Gnade und Berufung ohne Reue. Anmerkungen zum Traktat ‚De Iudaeis‘“. Darin knüpft Joseph Ratzinger an ein Dokument der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen mit dem Judentum an. Diese hatte 2015, fünfzig Jahre nach der Konzilserklärung „Nostra aetate“ über das Verhältnis der Kirche zum Judentum, eine grundsätzliche Stellungnahme veröffentlicht: „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt (Röm 11,9)“. Das Dokument ruft dazu auf, den jüdisch-christlichen Dialog theologisch zu vertiefen. Die neunzehnseitige Stellungnahme des ehemaligen Papstes greift dies auf und will als theologische Reflexion eine ausdrücklich innerchristliche Perspektive in die Debatte einbringen.
Es geht dem Autor vor allem um zwei Denkfiguren, welche die neue Sicht des Zweiten Vatikanischen Konzils auf das Judentum zum Ausdruck bringen. Zum einen ist das die sogenannte Substitutionstheorie, die in dem vatikanischen Dokument von 2015 zurückgewiesen wird. Mit diesem Denkmuster wurde bis zum letzten Konzil gekennzeichnet, dass die Gemeinschaft der Kirche im göttlichen Heilsplan an die Stelle Israels getreten sei, dieses also ersetzt habe (von lateinisch substituere, an die Stelle setzen). Seit der Konzilserklärung „Nostra aetate“, welche die Theorie als Begriff selbst nicht nennt, gelte diese Sicht als überholt, so Ratzinger. Der einstige Papst bezweifelt allerdings, dass der Begriff „Substitutionstheorie“ vor dem Konzil jemals eine Rolle gespielt habe. Diese Aussage Benedikts hat einen Gutteil der nachfolgenden Kritik ausgelöst. Der Theologe geht davon aus, dass die Substitution nachträglich konstruiert wurde, um die moderne Überwindung der schlimmen „mittelalterlichen“ Sicht der Kirche auf das Judentum anschaulicher zu machen.
Die zweite Denkfigur betrifft das Wort vom „nie gekündigten Bund“; sie wurde nach dem Konzil im Anschluss an den Römerbrief, Kapitel 9 bis 11, entwickelt und geht zurück auf Papst Johannes Paul II. Er hatte sie bei seinem Besuch 1980 in der Mainzer jüdischen Gemeinde verwendet, um die anhaltende Treue Gottes zu seinem Volk Israel zum Ausdruck zu bringen, den „älteren Geschwistern“ der Christen. Joseph Ratzinger schreibt: „Beide Thesen … sind im Grunde richtig, sind aber doch in vielem ungenau und müssen kritisch weiter bedacht werden.“
Die Messias-Frage
Ratzinger hält daran fest, dass das Judentum für Christen zu allen Zeiten „eine besondere Stellung“ habe und begründet das mit zwei Argumenten: Zum einen bleibt Israel auch nach der Gründung des Christentums im Besitz der Offenbarung Gottes. Aus Sicht der Christen drückt sich darin die besondere Stellung, die Erwählung der Juden, aus, ihr Verhältnis zum gemeinsamen einen Gott. Das Volk Israel bezeuge jederzeit die Authentizität dieser Offenbarung. Zum anderen spricht das Neue Testament – mit Paulus und der Offenbarung des Johannes – davon, dass Israel gerettet wird. Daher könne die Kirche gar nicht das auserwählte Volk „ersetzen“, substituieren.
Die Frage des „nie gekündigten Bundes“ zwischen Gott und den Juden muss gemäß Ratzinger wiederum differenzierter analysiert werden als bisher. So gehöre etwa die „Kündigung“ eines Bundes nicht zur theologischen Begriffswelt des Alten Testaments. Allerdings sei der Bund vonseiten der Menschen immer wieder gebrochen worden, wohingegen Gott treu blieb. Auch ist die Rede von nur „einem“ Bund einseitig, da die hebräische Bibel von etlichen Bundesschlüssen Gottes erzählt.
Dreh- und Angelpunkt bei Joseph Ratzinger ist die Christologie, das Christusverständnis. Wer Christus als alleinigen und verbindlichen, von Gott gesandten Heiland und Erlöser der Menschheit bekennt und anerkennt, ja als das fleischgewordene Wort Gottes, als Gott selbst, muss klären, inwiefern auch andere Religionen – hier genauer: das Judentum – von der Erlösung durch Christus betroffen sind. Hier gilt, dass der „neue Bund“ in Christus bis heute von nahezu allen Juden abgelehnt wird. Die jüdischen Gläubigen warten auf den Messias, während Christen in Jesus Christus ihren Messias bekennen, wenn auch Jesus selbst zu der Frage, ob er der verheißene Messias sei, sich gemäß den Evangelien oft irritierend zurückhaltend, ja bisweilen schroff zurückweisend äußerte. Eine eigenartige Spannung. Doch das Christusverständnis ist keine Kleinigkeit im Glaubensbewusstsein. Für Joseph Ratzinger entscheidet sich an der Christusfrage der Glaube selber.
Das Verheißene, das Erfüllte
Gerade die Messiasfrage stelle „die eigentliche Streitfrage zwischen Juden und Christen“ dar, hält Benedikt XVI. fest. Richte sich die jüdische Messiaserwartung auf einen auch politisch verstandenen Friedensbringer, so müsse man aus christlicher Sicht darauf verweisen, dass Jesus „nicht unmittelbar die vollendete neue Welt des Friedens bringen wolle …, sondern den Menschen, auch den Heiden, Gott zeigen wollte“. Es bleibe also ein gewisser Verheißungsüberschuss, insofern die Zeit Jesu „nicht eine Zeit einer kosmischen Umwandlung ist, … sondern eine Zeit der Freiheit“.
Dementsprechend werde von der Kirche auch jeder „politische Messianismus“ abgelehnt, der in einer theologischen Deutung zum Beispiel die Errichtung des Staates Israel 1948 als Erfüllung der biblischen Landverheißung versteht. Der frühere Papst Benedikt betont allerdings, dass der Staat der Juden aufgrund eines „naturrechtlichen Anspruchs“ der Juden auf eigenes Land berechtigt entstanden ist. „In diesem Sinn hat der Vatikan den Staat Israel als einen modernen Rechtsstaat anerkannt und sieht in ihm eine rechtmäßige Heimat des jüdischen Volks, deren Begründung freilich nicht unmittelbar aus der Heiligen Schrift abgeleitet werden kann, aber dennoch in einem weiteren Sinn die Treue Gottes zum Volk Israel ausdrücken darf.“
Der Bochumer Neutestamentler Thomas Söding hat (in der „Herder Korrespondenz“, August) den früheren Papst gegen den Vorwurf, er gefährde mit solchen Aussagen die religiöse Würde des Judentums, verteidigt. Joseph Ratzinger wolle mit seiner Analyse verdeutlichen, versachlichen, vertiefen. „Er will der Tradition gerecht werden, die differenzierter gewesen sei, als sie oft dargestellt werde, und er will der Heiligen Schrift des Alten wie des Neuen Testaments gerecht werden, deren Sprache hier präziser als die der gegenwärtigen Theologie sei.“ Hier müsse ein weiterführender jüdisch-christlicher Dialog anknüpfen.
Anders gesagt: Zwischen den beiden Geschwistern Judentum und Christentum besteht von Beginn an eine Asymmetrie. Christen können ihren Glauben nicht ohne das biblische Zeugnis der Juden, ohne den im Alten Testament bezeugten Ein-Gott-Glauben mit seinen Verheißungen bekennen. Das Judentum gehört zur Wurzel des Christentums. Gläubige Juden aber kommen in ihrer Lehre und Praxis ohne das Christentum aus. Der Wiener Oberrabbiner Arie Folger formulierte es in der „Jüdischen Allgemeinen“ so: „Wir brauchen die Bestätigung der Kirche nicht, um an die Wahrheit des Judentums zu glauben.“
Joseph Ratzingers Kritiker
Das journalistische – und vielfache theologische – Echo auf den „Communio“-Aufsatz war weitgehend ablehnend. Joseph Ratzinger sprach in einer in der „Herder Korrespondenz“ (Dezember) veröffentlichten „Richtigstellung“ gekränkt von einem „in Deutschland herrschenden Verriss“. Den meisten Kritikern ging es vor allem um den Stand der jüdisch-christlichen Verständigung, den sie fortan in Gefahr sahen. Als Erster äußerte sich der Schweizer Jesuitenobere Christian Rutishauser. Der frühere Papst habe zwar viele wertvolle Einzelüberlegungen zum Verhältnis von Christen und Juden vorgelegt. Doch der „Communio“-Aufsatz lasse dem Judentum nach Christus historisch nur noch die Funktion zukommen, „das Gericht Gottes zu verkörpern“. Und der Salzburger Dogmatiker Gregor Maria Hoff kritisierte in der „Zeit“, dass der ehemalige Papst zwar die Substitutionstheorie wörtlich ablehne, der Sache nach sie aber wiederhole: „Bei ihm tritt die christliche Eucharistie an die Stelle des jüdischen Tempelkults, die prophetischen Traditionen Israels erfüllen sich christlich.“
Der Koordinierungsrat der bundesdeutschen christlich-jüdischen Gesellschaften fragte: „Warum wird eine derart wichtige Thematik innerhalb des christlich-jüdischen Dialogs ohne die jüdische Theologie diskutiert?“ Die wohl schärfste Stellungnahme stammt vom Wuppertaler systematischen Theologen Michael Böhnke. Ratzingers Ausführungen zeigten ein problematisches Verständnis des Judentums und verschwiegen das Leiden, das Christen Juden angetan haben. Damit würden die Grundlagen des jüdisch-christlichen Dialogs „aufgekündigt“. Joseph Ratzinger hat in der „Richtigstellung“ den Beitrag Böhnkes als „grotesken Unsinn“ und „in höchstem Maße unwahre Unterstellung“ zurückgewiesen.
Die gegenwärtigen Leiter des Gesprächskreises „Juden und Christen“, Dagmar Mensink und Rabbiner Andreas Nachama, fanden in der „Frankfurter Rundschau“ die Leitfrage des Ratzinger-Beitrags anstößig: „Die Kernbotschaft lautet hier: Heil gibt es ausschließlich durch Christus.“
Der geschäftsführende Direktor des Instituts für Jüdische Theologie in Potsdam, Rabbiner Walter Homolka, sah den Aufsatz auf der Linie der 2007 von Papst Benedikt XVI. formulierten neuen Karfreitagsfürbitte für den außerordentlichen – tridentinischen – Ritus. Dort heißt es unter anderem, dass Gott „die Herzen der Juden“ erleuchten möge, „damit sie Jesus Christus als den Retter aller Menschen erkennen“. Er könne nicht erkennen, wie man auf diese Art das jüdisch-katholische Gespräch bereichern wolle, wie Kardinal Kurt Koch als Vorsitzender der vatikanischen Kommission für den Dialog mit den Juden es im Vorspann des Ratzinger-Aufsatzes geschrieben hatte. Auch die liberal ausgerichtete Allgemeine Rabbinerkonferenz Deutschlands bekundete, dass man nach der Lektüre zur Auffassung kommen müsse, dass das Judentum aus Sicht des Christentums „defizitär“, also mit Mängeln behaftet sei.
Der Wiener Theologe Jan-Heiner Tück und Thomas Söding – beide sind Herausgeber der Zeitschrift „Communio“ – sowie der Freiburger Dogmatiker Helmut Hoping verteidigten hingegen die Ansichten Benedikts. Zustimmung kam auch von der evangelisch geprägten „Internationalen Konferenz Bekennender Gemeinschaften“, eine nach eigenen Angaben theologisch konservative überkonfessionelle Vereinigung. Der zurückgetretene Papst bestätige einerseits die jüdische Auffassung, dass Gott den einzigartigen Bund mit Israel nie aufgekündigt habe. Zugleich bekräftige er die „Überzeugung Jesu und der Apostel, dass Gott durch Kreuz und Auferstehung Jesu einen universalen Bund mit der ganzen Menschheit eröffnet hat“. Es sei zu bedauern, „dass in der Presse die von Benedikt betonte Botschaft der universalen Liebe Gottes zum Teil in einem antijüdischen Sinne missverstanden und angegriffen wurde“.
Justin, Melito, Tertullian
Wohltuend sachlich und im Ton versöhnlich äußerte sich auch Arie Folger. Joseph Ratzinger habe „als bedeutender konservativer katholischer Theologe“ einen Text für den internen Gebrauch des Vatikan geschrieben. Dass der Autor dafür kritisiert werde, dass er Jesus als Heilsmittler auch für Juden gekennzeichnet habe, sei für ihn „nicht nachvollziehbar“. Wörtlich: „Was erwarten wir von einem ehemaligen Papst? Erwarten wir Juden tatsächlich, dass die Kirche das Judentum als legitimen Umweg um die kirchliche Lehre herum akzeptieren muss?“ Dass Joseph Ratzinger die Substitutionstheorie als Teil kirchlicher Lehre anzweifelt, ist für Folger allerdings ebenfalls unverständlich. Dies sei ein ungeschichtlicher „Revisionismus“, „der das reale Leid ignoriert, das wegen der Doktrin von ‚Verus Israel‘ (wahres Israel, gemeint ist die Kirche; d. Red.) Juden jahrhundertelang angetan wurde“.
Auch Helmut Hoping, der Ratzinger ansonsten entschieden verteidigt, korrigiert ihn in diesem Punkt. Er schreibt in der aktuellen „Communio“-Ausgabe: „Der Begriff der Substitution (supersessionism) mag dem theologiehistorischen Befund in seiner ganzen Komplexität nicht vollauf gerecht werden. Doch die Vorstellung, dass die Kirche im Heilsplan Gottes an die Stelle Israels getreten sei, wurde im Christentum auf fatale Weise wirkmächtig. Die Grundlagen dafür haben Justin der Märtyrer (um 100–165) und Melito von Sardes (gestorben um 180) gelegt. Justin spricht von der Kirche als dem wahren Israel, Melito macht den Juden erstmals den Vorwurf des Gottesmordes; zur Strafe für ihr Weltverbrechen wurden sie zerstreut… Für Tertullian (um 150bisnach 220) sind die Juden wegen ihrer Schuld verworfen… Die Juden fallen aus der Gnade Gottes heraus. Seitdem müssen sie in der Zerstreuung ausharren.“
Das Recht, Gott kennenzulernen
In seiner „Richtigstellung“ hat der frühere Papst das Thema Mission aufgegriffen – wohl auch, um etlichen Vorwürfen aus Deutschland, er würde einer neuen Judenmission das Wort reden, entgegenzutreten: Zunächst habe jeder Mensch ein Recht, Gott kennenzulernen. Denn nur wer Gott kennt, könne das Menschsein recht leben. „Deswegen ist der Missionsauftrag (Jesu im Matthäusevangelium; d. Red.) universal – mit einer Ausnahme: Eine Mission der Juden war einfach deshalb nicht vorgesehen und nicht nötig, weil sie allein unter allen Völkern den ‚unbekannten Gott‘ kannten. Für Israel galt und gilt daher nicht Mission, sondern der Dialog darüber, ob Jesus von Nazaret ‚der Sohn Gottes, der Logos‘ ist, auf den gemäß den an sein Volk ergangenen Verheißungen Israel und, ohne es zu wissen, die Menschheit wartet.“
Diese Einladung zum Dialog neu aufzunehmen, sei das Gebot der Stunde, so Joseph Ratzinger. Hanspeter Heinz, Augsburger Pastoraltheologe, drückte es einmal so aus: „Die Dialogpartner haben ein Recht darauf, das Glaubenszeugnis des anderen zu hören und vor Gott zu bedenken, auch wenn sie ihm nicht zustimmen können. Sie haben umgekehrt die Pflicht, dem anderen Rechenschaft über die eigene Hoffnung zu geben, ohne das absichtslose Zeugnis mit fragwürdigen Bekehrungsversuchen zu verwechseln.“
Dass sich seit dem Christusereignis in allmählicher Abwendung vom Judentum das Christentum als eigenständige Religion konstituierte, ist ein Faktum der neueren Menschheitsgeschichte. Ablösungen und Brüche erzeugen stets Schmerz und Irritation, oft auch Tragödien, nicht selten mit Gewalt verbunden, wie schon die Apostelgeschichte erkennen lässt. Solche Verletzungen wirken im Bewusstsein und im Unbewussten häufig lange nach. Die Ablösung des Christentums hat Gründe im Christusgeschehen selbst, im Juden Jesus von Nazaret, der in seinem Glauben aufwuchs und ihm treu blieb, der aber grundlegend neue Akzente in die Glaubensgeschichte gebracht hat und der unter anderem deshalb als „Häretiker“ seiner Tradition, ja als „Gotteslästerer“ verurteilt wurde. Diese Neuakzentuierung, verstärkt durch die Botschaft von der Auferweckung und damit göttlichen Bestätigung des Menschensohnes, ist von den Jüngern und den nachfolgenden Glaubensboten, ganz besonders von Paulus, aufgenommen und weiterentwickelt worden in der Freiheit der Kinder Gottes. Dieser jesuanisch-paulinische Paradigmenwechsel bedingt die bleibende Spannung, gibt aber ebenso Hoffnung, im Glauben an den einen und wahren Gott zusammenzufinden. Trotz aller Differenzen, die Juden und Christen weiterhin trennen, obwohl sie dieselbe Wurzel haben.