Die wunderbare Reiterstatue von Marc Aurel auf dem Kapitol in Rom kennt fast jeder. Das Leben keines anderen römischen Kaisers ist historisch derart genau erfasst wie das des Marc Aurel. Was ihn heute wieder interessant macht, sind seine Selbstbetrachtungen: nachdenkliche Notizen über Grundfragen des Menschseins, mit erstaunlich sensibler Selbst- und Weltwahrnehmung. Die Selbstbetrachtungen sind eine Summe jener griechisch-römischen Lebenskunst, die man „stoisch“ nennt. Das Ziel ist jene innere Balance aller Strebungen, die man früher Selbstbeherrschung nannte und heute wohl Ganzheitlichkeit nennen könnte.
Mitlesend sieht man dem Kaiser sozusagen bei der Seelenarbeit zu. Modern gesprochen, handelt es sich um so etwas wie eine Selbstanalyse, um „Wege zu sich selbst“. Und das bei einem Mann, der praktisch seine ganze Regierungszeit (161–180 n. Chr.) im Krieg an der germanischen Nord- und an der persischen Ostfront zu verbringen hatte. Entsprechend realistisch und illusionslos sind die Meditationen, tief vernunftgläubig und nicht ohne einen melancholisch-pessimistischen Zug. Besonders schlecht kommt bei dem zeitlebens kränkelnden Büchermenschen der eigene Leib weg, man kann gar von „Körperfeindlichkeit“ sprechen.
Tafelsilber für die Flutopfer
Beispielhaft ist, was Marc Aurel denkt und wonach er auch zu handeln versucht. Macht zum Beispiel ist für ihn kein Selbstzweck. Deshalb will er das Kaiseramt nicht allein ausüben. Als sein Bruder auf dem Kaiserthron gegen ihn revoltiert, ist bei ihm nichts von Rache zu spüren. Dem Stoiker gelten äußere Güter nichts. Angesichts einer katastrophalen Überschwemmung Roms verkauft er die kaiserlichen Kronjuwelen und das Tafelsilber, um den Armen aufzuhelfen. Noch auf dem Totenbett in einem Militärlager auf dem Gebiet des heutigen Wien rät er den Trauernden, besonders an die vielen Opfer der Pest zu denken, die das Reich schrecklich heimgesucht hat.
In die Wendezeit Marc Aurels fallen einige Prozesse gegen Christen, vor allem aber die ersten heftigen intellektuellen Konflikte zwischen Christen und Nichtchristen. Der im heutigen Palästina geborene Justin eröffnet Kontroversen mit den führenden Gebildeten seiner Zeit, um das Besondere des Christlichen argumentativ zu vermitteln. Er wird wegen seines Christusbekenntnisses zum Märtyrer. Kulturgeschichtlich steht fortan das Ringen zwischen platonisch-stoischer und christlicher Lebenskunst im Zentrum, im abendländischen Kontext bis heute. Wie anders schreibt doch Augustinus seine Bekenntnisse als Marc Aurel seine Selbstbetrachtungen.
Mit stoischer Weltvernunft
Ob man Marc Aurel einen Monotheisten nennen kann, wie es der Althistoriker Alexander Demandt tut, ist fraglich. Blieb Marc Aurel doch ganz in der römischen Götterwelt beheimatet, und das stoische Weltvernunftgesetz ist etwas anderes als der biblische Gott. An einen höchsten Gott glaubte der Kaiser jedenfalls ebenso wie der Zeitgenosse Epiktet. Als Henotheist war Marc Aurel fasziniert vom einen Göttlichen, vom inneren Grundgesetz der Welt und seiner kosmischen Gesamtvernunft.
Demandt, der Altmeister antiker Geschichtsforschung und Verfasser großer Monografien, stellt die Gestalt Marc Aurels plastisch und lebendig in seine Zeit. Kenntnis- und materialreich gliedert er den riesigen Stoff in zehn thematische Komplexe, stets mit kulturgeschichtlichem Hintergrund und oft mit aktuellem Bezug. In der Genealogie des Christlichen freilich zeigt er sich nicht so auf der Höhe der Forschung wie in seinem Zentralbereich. Kurzum: eine brillante Biografie, ein Bildungs- und Lesevergnügen, für religiös und theologisch Interessierte auch mit der Frage verbunden nach dem Christlichen im Unterschied zu vor- und nachchristlicher Lebenskunst, erst recht heute.