Du sollst nicht lügen“ steht schon in der Bibel. Trotzdem tut es der Mensch immer wieder. Psychologen gehen von bis zu zwei Mal pro Tag aus. Darunter sind auch Höflichkeitslügen, die gut gemeint sind, den Gesprächspartner nicht verletzen wollen, oder Halbwahrheiten. Die Lüge, also eine bewusst falsche, auf Täuschung angelegte Aussage, eindeutig als „böse“ zu brandmarken, fällt daher schwer. Auch in der Bibel ist ihre Einordnung nicht ganz so klar, wie viele Moralapostel meinen. Dort gibt es etliche Texte, in denen eine Lüge eindeutig gebilligt wird.
„Besonders in den narrativen Partien des Alten Testaments findet sich eine ganze Reihe von Überlieferungen, in denen Lügen offensichtlich gutgeheißen werden, etwa weil sich Schwache mit ihrer Hilfe gegen Mächtige schützen können“, erklärt der Rostocker Theologieprofessor Martin Rösel im Magazin „Zeitzeichen“. Im zweiten Buch Mose (Ex 1,15–21) beispielsweise befiehlt der Pharao den hebräischen Hebammen, alle neugeborenen Jungen zu töten. Dem leisten die Hebammen jedoch keinen Gehorsam. Als der Pharao sie zur Rede stellt, erklären sie, dass die Kinder schon auf der Welt sind, wenn sie dazukommen. Der Text endet mit dem Satz: „Darum ließ Gott es den Hebammen gut gehen.“ Die Lüge der Frauen wird von Gott also sogar belohnt. Das Paradebeispiel für einen erfolgreichen Lügner ist Jakob, der sich den Segen seines Vaters durch eine List erschleicht (Gen 27). Trotz der Lüge bleibt der Segen gültig. Im Fall von Judit, die ihr Volk rettet, indem sie Holofernes, den Feldhauptmann der Assyrer, betrügt und dann tötet, wird ihre Lüge sogar eindeutig positiv bewertet (Jdt 8–13).
„Solche Erzählungen stehen im Widerspruch zur geläufigen Wahrnehmung der Bibel als ein der Wahrheit verpflichtetes, das Lügen prinzipiell ablehnendes Dokument“, schreibt Rösel. Das achte Gebot, das gemeinhin mit einem Verbot des Lügens wiedergegeben wird, lautet an sich anders. In der Lutherbibel heißt es: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ (Ex 20,16). Die neue Einheitsübersetzung formuliert ähnlich. Ursprünglich hatte es sich wohl nur auf Situationen vor Gericht bezogen, in denen eine falsche Zeugenaussage zur Verurteilung eines Unschuldigen führen konnte. Martin Luther hat das Gebot zu einer Aufforderung der allgemeinen Ehrlichkeit erweitert. „Zeugnis reden“ bedeute, so führt er in seinem „Kleinen Katechismus“ aus, „dass wir unseren Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden“.
Petrus der Leugner
An anderen Stellen spricht sich die Bibel allerdings klar gegen Lügen aus. Als Kain Gott anlügt, dass er nicht wisse, wo sein Bruder Abel sei, deckt Gott die Lüge auf (Gen 4, 9–10). Eindeutig in seiner Ablehnung ist auch der Evangelist Johannes (8,44). Der Teufel sei der Vater der Lüge. Der Unehrliche ist damit automatisch dem Bösen zugeordnet. Für Paulus sind alle Menschen Lügner (Röm 3,4). Die Lüge sei mit der Sünde Adams in die Welt gekommen. Differenzierter sieht der Evangelist Markus die Sache. Nach Jesu Verurteilung verleugnet Petrus ihn dreimal. Da er vorher noch beteuerte, Jesus nie zu verraten, wird die Verwerflichkeit seiner Lüge noch verstärkt. Sie „erhält zudem den Charakter eines verweigerten Bekenntnisses“, so Rösel. Im Fortgang der Geschichte zeigt sich aber, dass Petrus vergeben werden kann, wenn er sein Leugnen ehrlich bereut. „Aus diesen Geschichten lässt sich folgern, dass für die biblischen Erzähler Lügen zur Realität der menschlichen Existenz hinzugehören. Sie sind dann akzeptabel, wenn sie Ohnmächtigen zum Recht verhelfen oder dem hintergründigen Wirken Gottes dienen. Sie sind abzulehnen, wenn sie die Gemeinschaft gefährden.“ Eine eindeutige moralische Wertung lässt sich aus der Bibel jedoch nicht ableiten.
Ebenso uneinig ist sich auch die Philosophie. Die eine Denkschule, zu der unter anderem der Kirchenvater Augustinus und Immanuel Kant gehören, lehnt die Lüge kategorisch ab, selbst wenn sie niemandem schadet. Diese Sichtweise scheint in der heidnischen Antike noch unbekannt gewesen zu sein. Platon stützt sich auf ein Konzept der heilsamen Lüge. Wenn die Wahrheit einen Menschen belasten oder er sie schlichtweg nicht verstehen würde, ist eine Lüge erlaubt. Mit den modernen Naturrechtstheorien des 17. Jahrhunderts entsteht eine Tradition, die vorsätzliche Falschrede nur dann als verwerflich einstuft, wenn durch sie Rechte verletzt werden. Was nicht schadet, ist erlaubt.
Wie sich die Schwebfliegen tarnen
Lügen mögen zwar alltäglich sein, sie machen das Leben jedoch nicht einfacher, erklärt die Psychologin Nina Krüger ebenfalls in „Zeitzeichen“. „Sie erfordern kognitive Kapazitäten, nicht nur um sie zu erfinden und auszuschmücken, sondern auch um sie zu erinnern und aufrechterhalten zu können.“ Nötig ist ein vorausschauendes Denken, um festzustellen, mit welcher Aussage eine bestimmte Situation abgewendet oder herbeibeschworen werden kann. Warum lügen Menschen dann trotz des hohen Aufwands? Weil sie einen guten Grund haben, die Mühen auf sich zu nehmen. Die erwartbaren Vorteile überwiegen die Nachteile.
Auch im Tierreich gibt es Täuschungen. Wespen tragen ihre schwarz-gelben Streifen, um Fressfeinde vor ihrer Wehrhaftigkeit zu warnen. Schwebfliegen haben die gleichen Warnfarben, sind jedoch harmlos. Sie täuschen ihre Umwelt bewusst – oder profitieren zumindest von einer zufällig hilfreichen Färbung ihres Körpers. Wer im Tierreich „lügt“, lebt länger. Für den Freiburger Moraltheologen Eberhard Schockenhoff ist damit klar, „dass das Lügen den natürlichen Umgang von Lebewesen miteinander bestimmt“. „Es ist aufgrund unseres biologischen Erbes von vorneherein zu erwarten, dass Kinder ihre Eltern belügen, Ehepartner einander betrügen oder Verwandte einander das Leben schwer machen.“ Im Gegenteil seien Kooperation und Solidarität eher überraschend, so Schockenhoff in seinem Buch „Zur Lüge verdammt?“. Doch von der reinen Biologie hat sich der vernunftbegabte Mensch im Gegensatz zum Tier gelöst – so zumindest das Selbstverständnis. Ist die Täuschung im Tierreich ein reiner Überlebensinstinkt, so kann der Mensch ihr durch höhere moralische Einsichten Einhalt gebieten.
Der amerikanische Philosoph und Erziehungswissenschaftler David Nyberg sieht in der Lüge gar ein „Alltagsattribut der praktischen Intelligenz“. Ohne die Fähigkeit zur Täuschung sei das Zusammenleben in der menschlichen Gemeinschaft praktisch unmöglich. Es stelle sich demnach nicht die ethische Frage, ob man die Unwahrheit sagen dürfe, sondern „wie wir wen worüber und wie lange täuschen dürfen“. Durch die schonungslose Wahrheit würden die zerbrechlichen Beziehungen zwischen Menschen Schaden nehmen, daher sei ein höflicher Betrug manchmal angebracht. Daneben gebe es aber auch eindeutig verwerfliche Formen der Lüge, etwa Insidergeschäfte beim Börsenhandel, verharmlosende Zigarettenwerbung oder den Missbrauch öffentlicher Ämter. Die Automobilkonzerne hatten für ihre Täuschung der Verbraucher gute Gründe. Es ging um Verkaufszahlen und den Erhalt von Arbeitsplätzen. Trotzdem war die Empörung nach dem Bekanntwerden groß. Haben die Menschen also ein Recht auf die Wahrheit, oder sind Lügen in einer Gemeinschaft nicht sogar notwendig?
Medienwelt der Falsch-Wahrheiten
Die Politik ist inzwischen auch im „Lügenzeitalter“ angekommen, bedauert der Journalist Hans Leyendecker in „Zeitzeichen“. Die Frage ist jedoch, ob es Zeiten gab, in denen es einmal anders war. Folgt man Niccolo Machiavelli, der im 16. Jahrhundert ein Handbuch für Fürsten verfasste, so brauchen die Herrscher keine moralischen Bedenken beim Gebrauch von politischen Lügen zu haben. Spätestens die Propagandaschlachten der beiden Weltkriege räumten die letzten Zweifel an der moralischen Integrität und Wahrheitsverbundenheit der Politiker aus. Heute ist das nicht viel anders. Die Wahlkämpfe der letzten Jahre haben gezeigt, dass Wahlen immer weniger mit Fakten gewonnen werden. Im Internet verbreiten Meinungsmacher Lügen und Halbwahrheiten, um Stimmung gegen oder für eine Gruppierung zu machen. Bei vielen fällt das auf fruchtbaren Boden. „Mancher tut heute so, als ob Fakten von gestern seien. Es gibt Leser, Mediennutzer, bei denen nicht mehr die Begriffe wahr oder unwahr die entscheidende Rolle spielen, sondern: Gefällt mir, gefällt mir nicht. Was mir gefällt, ist wahr. Was mir nicht gefällt, ist unwahr“, so Leyendecker, der bis 2016 das Investigativressort der „Süddeutschen Zeitung“ leitete.
Ganz neu und überraschend sei diese Entwicklung nicht. Nach der Verbreitung des Buchdrucks wurden ebenfalls massenhaft Flugblätter mit Ungeheuerlichkeiten und Lügen verbreitet. „Desinformation und Information konkurrierten also schon vor Jahrhunderten miteinander.“ Die Medien sind sicherlich nicht ganz unschuldig an der Verbreitung der politischen Lügen, das Internet erleichtert den Meinungsmachern die Arbeit jedoch enorm: „Brexit-Befürworter haben mit gefälschten Zahlen Politik gemacht, Erdogan und seine Leute machen das ähnlich, Trump macht das und Putin auch.“ Die Lüge ist zum üblichen politischen Machtinstrument – auch in der Demokratie – geworden. Welche Folgen die politischen Lügen langfristig für die Demokratie haben werden, ist nicht absehbar. Positive Auswirkungen für das Vertrauen in die staatlichen Institutionen und für ein solidarisches Miteinander sind aber kaum vorstellbar. Was passiert, wenn zu viele Lügen das Vertrauen erschüttern, zeigt sich bei der Kirche. Durch das Leugnen der Missbrauchsfälle versuchte sie, Schaden von der „heiligen Institution“ abzuhalten. Als die Täuschung ans Licht kam, waren die negativen Folgen ungleich größer, und der Verlust an Vertrauen – der gerade die Kirche als moralische Instanz besonders trifft – ist kaum mehr gutzumachen.
Soll der Patient alles wissen?
Weit weniger eindeutig ist die Bewertung einer Lüge in der Medizin. Im 19. Jahrhundert war es üblich, dass Ärzte ihren Patienten eine ernste Diagnose verschwiegen, berichtet Schockenhoff. Die Wahrheit würde unter Umständen den Lebenswillen der Patienten schwächen. Stattdessen wollten die Ärzte bis zum Ende Hoffnung verbreiten. Zudem wussten die Mediziner um die Begrenztheit ihres Wissens. Es herrschte die Sicht vor, das Ziel einer Therapie müsse immer die Genesung des Patienten sein, selbst wenn das medizinisch ausgeschlossen sei und alle Anstrengungen folglich eine bewusste (Selbst-)Täuschung von Arzt und Patient seien. Nach dem Zweiten Weltkrieg mehrten sich in der Ärzteschaft die Stimmen derer, die dem Patienten nach und nach so viel von der Wahrheit enthüllen wollten, wie er zu diesem Zeitpunkt vertrug. Nur so könne er den nahen Tod akzeptieren und sich „den ewigen Dingen“ zuwenden. Letztlich habe der kranke Mensch ein Recht auf die Wahrheit, er müsse seine irdischen Dinge regeln können.
Einen Menschen anzulügen, verletzt seine Würde. Das gilt jedoch nicht nur mit Blick auf den Tod, sondern auch bei allen anderen Therapien. Ein wirkliches Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient kann es nur geben, wenn beide Seiten unbedingt ehrlich miteinander umgehen. Patienten und ihre Angehörigen müssen heute aus einer Fülle möglicher Therapien wählen. Das geht jedoch nur, wenn sich alle – so gut es eben geht – im Klaren über die Situation sind. Umgekehrt heißt diese Pflicht zur Wahrheit für Ärzte aber nicht, dass sie ohne Rücksicht auf ihr Gegenüber alles Wissen weitergeben und den Patienten mit Fakten womöglich überfordern. Auflösen lässt sich dieser Zwiespalt, indem das medizinische Personal zwar alle Fragen wahrheitsgemäß beantwortet, Dinge, die nicht gefragt werden, aber einstweilen unausgesprochen lässt – in der Annahme, wenn der Patient bereit für mehr sei, werde er danach fragen. Was aber ist mit Menschen, die vielleicht oder wahrscheinlich erst in der Zukunft erkranken werden? Die eine unheilbare potenzielle Erbkrankheit in sich tragen, die jedoch erst später ausbrechen wird – oder auch nicht? Was wiegt schwerer, die Wahrheit oder ein bis auf Weiteres sorgenfreies Leben?
Eine einfache Antwort auf die Frage, ob es moralisch verwerflich ist, die Unwahrheit zu sagen, gibt es nicht. In der Wahrheit möchten alle Menschen jedoch leben. Wieviel Lüge ist der Wahrheit zumutbar, ohne dass sie gravierend Schaden nimmt? Irgendwo, irgendwann führt alles auch noch so gut gemeinte Lügen ins Verderben.