Fortuna ist 14, fast noch ein Kind. Doch die Welt hat sie gezwungen, viel zu früh erwachsen zu werden. Mit ihren Eltern ist sie aus Äthiopien nach Europa geflohen. Vielleicht weil die christliche Familie in ihrer Heimat von der autokratischen Staatsmacht drangsaliert oder von radikalen Muslimen verfolgt wurde. Vielleicht wollte sie auch bloß der bitteren Armut und den bürgerkriegsähnlichen Zuständen entkommen. Jetzt wohnt Fortuna in einem abgelegenen Kloster in den Schweizer Alpen. Die Mönche haben sich bereit erklärt, in ihrem großen Haus eine Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge einzurichten. Diese können so lange im Kloster bleiben, bis über ihren Asylantrag entschieden ist. Dann dürfen sie sich entweder in der Schweiz niederlassen oder werden zurück nach Afrika geschickt. „Wir wollen jeden Fremden aufnehmen, als wäre es Christus“, sagt der Vorsteher der kleinen Gemeinschaft, Bruder Jean.
Theoretisch müsste Fortuna glücklich sein. Schließlich hat sie es nach Europa geschafft. Doch das Mädchen ist verschlossen, macht einen geradezu verstörten Eindruck, jegliche Versuche der Kontaktaufnahme weist sie ab. Das liegt wohl auch daran, dass sie bei der Flucht übers Mittelmeer Traumatisches erlebt, insbesondere ihre Eltern verloren hat. Doch schnell wird klar, dass da noch mehr sein muss. Fortuna ist schwanger. Der Vater des Kindes ist Kabir, ein Muslim, doppelt so alt wie die junge Frau. Er ist ebenfalls in dem Kloster untergekommen.
Diese überaus dramatische Situation steht am Anfang des Spielfilms „Fortuna“ des Westschweizer Regisseurs Germinal Roaux. Er stellt seine Hauptfigur (beeindruckend: Kidist Siyum Beza) mitten ins Feuer fremder Erwartungen. Kabir (Assefa Zerihun Gudeta) drängt sie zur Abtreibung. Andernfalls, so befürchtet er, könnte er wegen der sexuellen Beziehung zu einer Minderjährigen ins Gefängnis kommen. Wahrscheinlich will er sich aber auch einfach nicht seiner Verantwortung stellen; die Vaterrolle läuft seiner Lebensplanung zuwider. Tragischerweise versucht auch der Sachbearbeiter der Schweizer Asylbehörde, Fortuna zum Schwangerschaftsabbruch zu bewegen. Welche Pflegefamilie würde schon eine Minderjährige mit einem Baby aufnehmen? Und wie wollte sie so zur Schule gehen, lernen, sich integrieren?
Mit diesem enormen psychischen Druck ist Fortuna ganz allein. Sie wendet sich an Gott. „Du weißt, dass ich deine Hilfe brauche. Du weißt, dass ich allein bin. In einem Land, das ich nicht kenne. In einer Sprache, die ich nicht spreche. In einem Leben, das ich nicht verstehe“, betet sie in der Kapelle vor einer Marienstatue. Doch weder Gott noch Maria antworten ihr. Deshalb vertraut sie sich schließlich zaghaft den Mönchen an. „Hört Gott auf Sie? Mir hört er nicht zu. Er hilft mir nicht.“ Und an dieser Stelle tut sich tatsächlich eine Tür auf. Bruder Jean (wie immer großartig: Bruno Ganz) wird zum Fürsprecher Fortunas und des ungeborenen Lebens. Nicht, indem er theoretisch und formelhaft mit der Heiligkeit des Lebens argumentiert. Vielmehr gibt der Klostervorsteher zu bedenken, dass all die noch so „vernünftigen“ Argumente von Menschen manchmal doch in die Irre führen. „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken“, spricht Gott bei Jesaja (55,8). „Überlegen Sie sich, wonach dieses Mädchen sucht: nach Liebe und Geborgenheit“, sagt Bruder Jean im Film: „Und wenn sie nichts anderes in der Welt hat als dieses Kind, das in ihr wächst, vielleicht ist das der Ort, wo sie das sucht, ihr Zuhause.“
„Fortuna“ bietet keine einfachen Antworten. Leidenschaftlich fordert der Film allerdings den Spielraum ein, in dem die Hauptfigur ihre eigene Entscheidung treffen kann, unabhängig von den Erwartungen der anderen. Eine klare ethische Orientierung lässt der Film dabei gelten. Und er erwartet sie sogar von Christen. Da gibt es keine Berührungsängste. Die strengen Regeln im Kloster, das Gebetsleben werden unvoreingenommen geschildert. Das heißt nicht, dass dieser Ort idealisiert würde. Auch in der kleinen Gemeinschaft gibt es zum Beispiel Mönche, die das Flüchtlingsengagement ablehnen. Dafür sind sie doch nicht ins Kloster gegangen! Wollten sie nicht ein Leben der Gottsuche, der Einsamkeit und Stille? „Sind wir bereit, das zu opfern, was uns am wichtigsten ist?“, fragt Bruder Jean zurück. Am Ende setzt sich die Menschenfreundlichkeit durch.
An Filmen wie diesem zeigt sich: Die „Berlinale“, das ist mehr als der rote Teppich, mehr als all die Aufgeregtheit um die „Bären“, die Hauptpreise des Wettbewerbs. Das Festival ist ein Ort, an dem sich – gerade abseits des Rummels und der medialen Hysterie – tatsächlich Kino-Perlen entdecken lassen: „Fortuna“ etwa, der zu Recht zwei Preise in der Jugendfilm-Sparte „Generation“ erhielt.
Thematischer Schwerpunkt der Festspiele war erneut, wie in den letzten beiden Jahren, die Flüchtlingskrise. Von ihr wird allerdings inzwischen anders erzählt. Im Unterschied etwa zu „Fuocoammare“ (Seefeuer), das vor zwei Jahren den „Goldenen Bären“ gewann, stehen nicht mehr die einzelnen Schicksale auf der Flucht im Mittelpunkt, nicht der Weg nach Europa. Vielmehr hätten die Geschichten eine „neue Ebene“ gefunden, wie es Berlinale-Chef Dieter Kosslick formulierte. Es geht jetzt oft um das, was nach der Flucht kommt. „Fortuna“ ist das beste Beispiel dafür.
Auch „Styx“ vom Österreicher Wolfgang Fischer ist mehr eine Parabel, als dass es um die konkrete Geschichte von Rike (Susanne Wolff) geht. Die Frau arbeitet in Deutschland als Notärztin. In diesem Leben hat die Mittvierzigerin die Dinge im Griff. Sie verabreicht ein bestimmtes Medikament, und die Situation des Patienten stabilisiert sich umgehend. Ursache und Wirkung, alles hat hier seine Ordnung. Auch ihren Jahresurlaub hat Rike in dieser Haltung geplant. Von Gibraltar aus will sie auf den Atlantik und dort zehn Tage allein Richtung Süden segeln. Was soll schon passieren? Schließlich ist sie bestens vorbereitet und mit allen Segnungen der modernen Welt ausgestattet: von technischem Gerät über Funktionskleidung bis zu ausreichend Proviant.
Doch es geschieht Unvorhergesehenes. Auf ihrem Weg ins Südseeparadies trifft Rike auf einen manövrierunfähigen Flüchtlingskutter mit verzweifelten, um Hilfe schreienden Menschen an Bord. Nur hundert Meter sind beide Boote voneinander entfernt, und doch trennen sie Welten. Hier die Urlauberin auf ihrer hochgerüsteten Jacht, dort die Verlorenen auf dem übervollen Kahn, die schutzlos den Naturgewalten ausgesetzt sind. Wie kann die Begegnung aussehen?
Wolfgang Fischer führt in seinem Film verschiedene Möglichkeiten vor, die im Grunde für die Gesellschaft als Ganze gelten, jenseits der Geschichte von Rike. Spontan will man helfen. Auch Rike möchte am liebsten alle Flüchtlinge auf ihr Boot holen. Aber würde sie damit nicht eine Panik auslösen, letztlich sich selber in Gefahr bringen? Eindringlich warnt die Küstenwache sie über Funk vor diesem Schritt. Rike ist in dem Augenblick tatsächlich kurz davor, sich die Ohren zuzuhalten und einfach abzudrehen. Doch letztlich bringt sie das nicht übers Herz, zumal deutlich wird, dass sich sonst niemand für die Flüchtlinge interessiert. Die versprochene Rettungsmission lässt auf sich warten, und alle Handelsschiffe in der Umgebung verweigern die Hilfe. Mit Flüchtlingen will niemand zu tun haben. Aber welche Alternativen hat die Seglerin? Sie könnte zum Beispiel einige wenige Menschen retten, nur so viele eben, dass ihr eigenes Boot nicht kentert. Aber wie viele sind das? Und welche? Nur die Kinder womöglich, weil sie noch ein ganzes Leben vor sich haben? Doch diese Kinder fragen dann zu Recht, warum man den Rest ihrer Familie ertrinken ließ. Rike fischt im Film einen Jungen aus dem Wasser, der dann genau diese Fragen stellt. Warum holt die weiße Frau nicht auch noch seine Schwester an Bord? Die Situation spitzt sich zu, als das Flüchtlingsboot anfängt unterzugehen. Jetzt reicht es auch nicht mehr, ein paar Wasserflaschen oder Müsliriegel nach drüben zu werfen.
„Styx“, unter anderem von der Ökumenischen Jury ausgezeichnet, lässt den Zuschauer zwiegespalten zurück. Es ist beeindruckend, wie sehr der Film die großen ethischen Fragen auf kleinstem Raum konzentriert und damit für jeden erfahrbar macht. Mehr noch: Der Film tut streckenweise fast körperlich weh, etwa wenn er „in Echtzeit“ zeigt, wie mühevoll es ist, einen bewusstlosen Körper an Bord eines Segelschiffs zu befördern. Da ist nichts sentimental, wird nichts geschönt oder abgekürzt – das ist echt! Dennoch lässt sich auch fragen, ob manches nicht etwas effekthascherisch daherkommt. Warum beispielsweise liest Rike als abendliche Lektüre ausgerechnet ein Buch von Charles Darwin, der über das Überleben der Fittesten, über den Kampf ums Dasein geschrieben hat? Da hätte nicht alles bis ins Letzte ausformuliert werden müssen.
Der Dokumentarfilm „Eldorado“ von Markus Imhoof muss sich mit diesen Fragen nicht beschäftigen. Er geht nicht künstlerisch-erzählend, sondern journalistisch-aufklärend an das Thema heran. Der Schweizer Autor beschreibt, wie es afrikanischen Flüchtlingen ergeht, beginnend mit dem Augenblick, an dem sie im italienischen Teil des Mittelmeers gerettet werden. Man bringt sie ans Festland, versorgt sie mit dem Nötigsten und schickt sie anschließend, weil sie in den allermeisten Fällen nicht politisch verfolgt wurden, in ihr Herkunftsland zurück.
Doch so funktioniert das System nur theoretisch, so haben es sich die Politiker und Bürokraten auf EU-Gipfeln ausgedacht. In der Praxis tauchen die Menschen unter und versuchen sich durchzuschlagen. Das Problem ist laut Markus Imhoof vor allem, dass die westlichen Volkswirtschaften inzwischen fest mit diesen modernen „Sklaven“ rechnen. Man habe billige, rechtlose Arbeitskräfte, die zudem einen sicheren Absatzmarkt garantieren – denn die in Italien von illegalen Migranten geernteten Tomaten würden später in Afrika zu subventionierten und damit konkurrenzlos billigen Preisen verkauft. Bezahlt zudem noch von dem Geld, das die Afrikaner nach Hause schicken. „Das ganze System ist falsch“, kritisiert Imhoof auf der Pressekonferenz. Und mehr noch: „Mit jeder Tomate, jedem Spaghetti, die wir essen, stützen wir es.“ Ein politisch sehr engagierter Film ist „Eldorado“. Dadurch dass er außer Konkurrenz lief, wurde zusätzlich unterstrichen, dass es ihm nur um seine „Botschaft“ ging, nicht um einen „Bären“.
Neben der Flüchtlingsthematik war ein weiterer roter Faden überraschenderweise die Religion. Dafür steht zuerst Linie der Wettbewerbsfilm „La Prière“ (Das Gebet). Das Werk könnte man leicht mit einer Dokumentation verwechseln. So wird in dem Film etwa – da ist der Titel programmatisch – tatsächlich sehr oft gebetet. Und zwar ganz traditionell, gewissermaßen die eiserne Ration der Christen: Vaterunser, Ave Maria. Und auch in der entscheidenden Szene, nach einem Unfall im Gebirge, betet die Hauptperson Thomas (ganz stark und zu Recht mit dem Schauspieler-Bären bedacht: Anthony Bajon) mit einer selten gesehenen Inbrunst um sein Leben. Man ist an Jesus im Garten Getsemani erinnert.
Der Film erzählt von einer Einrichtung in den französischen Alpen, in der junge Menschen ihre Drogensucht überwinden sollen. Gegründet wurde das Haus von einer Ordensfrau, die klare Prinzipien vorgegeben hat: Gebet, harte Arbeit in der Landwirtschaft und Solidarität sollen den Tagesablauf der Jugendlichen bestimmen und sie so aus der Abhängigkeit führen. Nicht alle können diesen Weg mitgehen, auch Thomas rebelliert zunächst immer wieder.
Ein anderer Film mit ausdrücklich religiöser Thematik ist „The Best Thing You Can Do With Your Life“ (Das Beste, was man aus seinem Leben machen kann). Er lief in der Reihe „Perspektive deutsches Kino“, in der beispielhaft gezeigt wird, was Nachwuchsregisseure umtreibt. Zita Erffa hat eine Art Filmtagebuch gedreht, mit dem sie sich auf die Spur ihres Bruders László begibt. Der ist in die umstrittene Gemeinschaft der „Legionäre Christi“ eingetreten. Obwohl auch Zita in diesem geistigen Umfeld aufgewachsen ist, empfindet sie den Schritt ihres Bruders zunächst als „Verrat“. Die Geschwister hatten sich versprochen, einen gewissen Abstand von der erzkonservativen und von zahlreichen sexuellen Skandalen erschütterten Vereinigung zu halten. Zita brach den Kontakt daraufhin fast komplett ab. Dann jedoch will sie wissen: Was ist passiert, dass ihr Bruder sich anders entschieden hat? Sie will seine Motive verstehen.
Beide Filme, „La Prière“ und „The Best Thing You Can Do With Your Life“, sind jeweils auf ihre Art unbefangene Annäherungen an den Glauben. Die Regisseure scheinen ehrlich interessiert, gehen ohne große Vorurteile an ihr Thema heran. Lässt das kritische oder gar zynische Abarbeiten am Christentum womöglich ein Stück weit nach? Interessiert sich eine junge Generation wieder neu für die – inzwischen weithin unbekannte eigene – Glaubenstradition?
Bemerkenswert ist, dass sich die Filmleute bei religiösen Fragen deutlich offener zeigten als die Mehrzahl der am Festival anwesenden Journalisten. In der Pressekonferenz zu „La Prière“ etwa bohrten die Reporter immer wieder nach, was denn eigentlich in dem Thema stecke. Ob man nicht sagen könne, dass Religion die neue Droge für die Ex-Junkies sei? Oder ob die Aussage nicht vielmehr sei, dass Frauen die Rettung bringen – statt die Religion? Schließlich sei es die Begegnung mit einem Mädchen aus dem Dorf, die Thomas einmal wieder auf den rechten Weg bringt, als er weglaufen und die Therapie abbrechen will. Regisseur Cédric Kahn reagierte verwundert auf solche Versuche, etwas in seinen Film hineinzutragen, woran er selbst nicht gedacht habe. Der Regisseur und sein Team berichteten lieber ausführlich davon, was das Religiöse, Christliche als Thema mit ihnen selbst „gemacht“ habe. „Es bleibt ein Spielfilm“, erinnerte Damien Chapelle, der einen der Brüder in der christlichen Gemeinschaft spielt. Doch sei er überrascht gewesen, wie ihn die Wucht der traditionellen Gebete „gepackt“ habe. Man komme in eine Art Flash, spüre, dass es hier um mehr gehe, wirklich um Transzendenz.
Auf andere Weise beschäftigt sich der russisch-kasachische Regisseur Timur Bekmambetov in „Profile“ mit Religion. Der Film erzählt die Geschichte der Journalistin Amy Whittaker (Valene Kane). Sie will über junge Frauen berichten, die in West-Europa zum Islam übertreten, nach Syrien reisen und sich dem „Islamischen Staat“ anschließen. Was treibt sie an? Wie radikalisieren sie sich? Wer beeinflusst, manipuliert sie? Weil die Rekrutierung meist über soziale Netzwerke im Internet erfolgt, beginnt Amy ihre Recherche damit, dass sie ein „typisches“ Konvertiten-Facebook-Profil anlegt (daher der Filmtitel). Und tatsächlich wird schnell ein extremistischer Kämpfer auf sie aufmerksam: Abu Bilel al-Britan (Shazad Latif) will die vermeintlich zum entschiedenen Islam Bekehrte nach Syrien locken und zur Ehefrau nehmen. Über mehrere Tage hinweg chatten und telefonieren die beiden jungen Leute übers Internet. Es entwickelt sich ein packender Thriller zwischen Realität und propagandistischer (Lügen-)Welt, der die vorgegebenen Rollen ins Wanken bringt.
Was sonst an diesem „Berlinale“-Jahrgang auffällt, ist eine gewisse Unwucht zwischen den Generationen. Viele Filme zeichnen die Erwachsenen als äußerst schwache Figuren. Sie taugen nicht zum Vorbild – weil sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Charlie in „Rückenwind von vorn“ ist solch eine typische Vertreterin. Als Lehrerin sollte sie festen Boden unter den Füßen haben und ihren Schülerinnen und Schülern Orientierung geben. Doch sie selbst kommt mit dem Erwachsenwerden nicht klar. Sehnsüchtig schaut sie jüngeren Frauen hinterher, die mit einem Bier in der Hand um die Häuser ziehen. Bei ihr jedoch scheint inzwischen alles festgelegt: Der Beruf verlangt Disziplin, ihr Partner plant zielstrebig die Familiengründung. Aber sind das auch Charlies eigene Bedürfnisse?
Der Film des jungen deutschen Regisseurs Philipp Eichholtz hat eine gewisse Schlagseite. Er sympathisiert sehr mit seiner Hauptfigur Charlie (Victoria Schulz). Zum ganzen Bild würde es aber gehören, manche Unreife auch als solche zu benennen, etwa wenn Charlie, einem spontanen Impuls folgend, ihre Schulklasse unbeaufsichtigt sitzenlässt.
Noch extremer stellt es der Mittvierziger Paul Zeise (Sebastian Rudolph) in dem Film „Whatever Happens Next“ (Was auch immer als Nächstes passiert) an. Eines Tages lässt er ohne Vorankündigung plötzlich alles zurück: Frau, Beruf, seine gesamte Existenz. Er steigt einfach vom Rad und läuft in die weite Welt hinaus. Verantwortung? Welche Verantwortung? Regisseur Julian Pörksen inszeniert seinen Film ebenfalls mit viel Wohlwollen für seine Hauptfigur. Immerhin jedoch bekommt Paul nicht nur Bewunderung für seinen Ausbruch.
In vielen Filmen sind Kinder und Jugendliche diejenigen, die viel erwachsener, reifer auftreten. Das gibt dann oft eine schöne Geschichte übers Erwachsenwerden, Coming of age. Letztlich aber wird viel zu viel Last auf die jungen Schultern gelegt. Im Film „Figlia mia“ (Meine Tochter) etwa muss die zehnjährige Vittoria (Sara Casu) manche Ungeheuerlichkeit anhören und ansehen, nur weil sich ihre leibliche und ihre Adoptivmutter um das Mädchen streiten. Das ist einfach nur traurig. Und es wäre zu fragen, ob Filme, die ja meist auch staatlich gefördert werden, nicht andere Rollenbilder zeichnen sollten.
Diese Anfrage gilt auch für den größten Aufreger dieser „Berlinale“, die Verleihung des „Goldenen Bären“ an den rumänischen Wettbewerbsbeitrag „Touch Me Not“ (Fass mich nicht an). Seit dreißig Jahren habe es keine derartige „Schockentscheidung“ einer Jury mehr gegeben, schrieb Filmkritiker Hanns-Georg Rodek in der „Welt“. Die experimentelle Arbeit von Adina Pintilie – weder Spielfilm noch reine Dokumentation – stellt eine Frau um die Fünfzig in den Mittelpunkt (Laura Benson), die Probleme mit körperlicher Berührung hat. Auf der Suche nach einer Therapie geht sie sehr unkonventionell vor: Sie trifft sich mit Menschen, die ihre Sexualität exzessiv auf vielerlei Weise „ausleben“. Der Zuschauer ist bei all dem ganz nah dabei – wenn er nicht den Kinosaal vorzeitig verlässt, wie es viele Festivalbesucher taten.
Vermutlich ging es der Jury bei dieser Entscheidung um nichts als Provokation, wie sie anscheinend bei Sex als einem Hauptthema in der Gesellschaft immer noch funktioniert. Dem sollte man dann aber nicht auf den Leim gehen und diesen Film zu wichtig nehmen. Vielmehr bleibt zu würdigen, dass gerade auf dieser „Berlinale“ Werke gezeigt wurden, die jenseits des Massengeschmacks und der entsprechenden medialen Aufmerksamkeit etwas wagten – und schafften. Mit anderen Worten: Es war einer der stärkeren Festival-Jahrgänge.