Gewissenhaft stochert Jehoschua Rachamim mit dem Holzstock in den Ritzen der Klagemauer. Ob mikroskopisch klein gefaltet, sorgfältig gerollt oder hastig zusammengedrückt: Zettel um Zettel entlockt Rachamim den historischen Steinblöcken. Zweimal im Jahr, vor dem Pessachfest im Frühjahr und vor dem jüdischen Neujahr im Herbst, wird die Gebetsstätte am Fuße des Tempelbergs in der Jerusalemer Altstadt von den Zeugnissen der Gebete und Bitten befreit, die tausende Besucher in den Mauerritzen hinterlassen. „Wir machen Platz für die Zettel der kommenden Beter“, sagt Rachamim.
Seit 42 Jahren landen zu Pessach und Rosch Haschana die Wünsche und Hoffnungen von Menschen aus aller Welt vor Jehoschua Rachamims Füßen. „Ich helfe damit nicht nur den Menschen, sondern ich erfülle ein Gebot Gottes“, sagt er. So nah an der Stelle des ehemaligen Tempels fühle er sich „wie im Himmel“.
Hier an der Klagemauer, erklärt der für die heilige Stätte verantwortliche Rabbiner Schmuel Rabinowitsch, „ist der Platz, an der nach jüdischer Tradition die Gebete des gesamten jüdischen Volkes hinaufsteigen zu Gott“. Nicht nur Juden, auch Angehörige anderer Religionen nutzen diesen „direkten Draht“ und platzieren ihre Bitten in Zwischenräumen und Rissen der antiken Steinquader. Der Rabbiner legt bei der Reinigung regelmäßig selbst mit Hand an. „Dann bete ich, wie jeden Tag, für all die Beter hier an der Klagemauer, dass Gott ihre Gebete erhöre.“
Einen der unzähligen Papierfetzen zu öffnen und zu lesen, fiele weder dem Rabbiner noch Jehoschua Rachamim oder einem der anderen Helfer ein. Was auf den Zetteln steht, sagt Rabinowitsch, geht „nur den Menschen und seinen Schöpfer“ etwas an. Die Zettel anderer zu lesen, ist tabu. Entsprechend deutlich verurteilte der Rabbiner die Tat eines Talmudschülers, der vor einigen Jahren den Zettel des damaligen amerikanischen Präsidenten Barack Obama stahl und die prominenten handschriftlichen Bitten im Internet veröffentlichte oder veröffentlichen ließ.
Briefe an Gott
Doch Fälle wie dieser sind die Ausnahme. Entsprechend respektvoll verläuft die Reinigungsprozedur. Texte, die den Namen Gottes enthalten, dürfen nach jüdischer Tradition zudem nicht einfach entsorgt werden. Das gilt für die individuellen Briefe an Gott nicht weniger als für ausgediente Gebetbücher und gealterte Thorarollen. Über einen Zwischenstopp in der Genisa, dem Depot für ausrangierte heilige Schriften, werden die Zettelchen deshalb zum Ölberg gebracht, wo sie nach jüdischer Tradition beerdigt werden. „Dass die Zettel nicht in den Müll geworfen werden, ist würdig“, formuliert die äthiopischstämmige Jüdin Jitisch.
Wie lange das eigene Gebet physisch in der Klagemauer steckt oder nicht, spielt „letztlich keine Rolle“, wie zwei Amerikanerinnen meinen. Für sie ist der Zettel in der Wand ein „symbolischer Ausdruck der Verbundenheit mit dem eigenen Erbe“.
Die Klagemauer ist die Westmauer des Tempelbergs. Sie blieb erhalten, als die Römer im Jahr 70 das eigentliche Gotteshaus, den sogenannten Zweiten Tempel, der im 6. Jahrhundert v. Chr. unter Serubbabel errichtet worden war, zerstörten. Nach rabbinischer Tradition ist die ewige Anwesenheit des Höchsten damals vom Allerheiligsten des Tempels auf die Klagemauer übertragen worden und das wichtigste jüdische Heiligtum.
Bislang beten Männer und Frauen an der Klagemauer getrennt. Es gibt nur einen kleinen, wenig bekannten gemischten Bereich mit eigenem Zugang. Liberale und konservative Juden wollen das ändern. Sie sehen Männer und Frauen als gleichberechtigt an. Deshalb fordern sie auch für die Klagemauer einen gemeinsamen Zugang und dann drei Bereiche nebeneinander: einen gemischten und zwei nach Geschlechtern getrennte für die orthodoxen Juden. Nach langem Streit darüber haben nun die Bauarbeiten begonnen.
Neben ihrer religiösen Bedeutung ist die Klagemauer auch immer von den politischen Spannungen rund um den Tempelberg betroffen. Erst kürzlich warf die Palästinensische Befreiungsorganisation Israels Regierung vor, gezielt gegen den arabischen und islamischen Charakter Jerusalems vorzugehen. Dazu verwies man auf die unlängst eröffnete Synagoge in den Tunneln entlang der Klagemauer. Auch die israelischen Pläne, die Klagemauer mit einer eigenen Haltestelle an die neue Zuglinie Jerusalem-Tel Aviv anzuschließen sowie die geplante Seilbahn von Westjerusalem zum Ölberg und zur Klagemauer seien weitere Versuche einer Judaisierung der Stadt.
Die Tradition der Gebetszettel geht mindestens bis ins 19. Jahrhundert zurück. Manche nehmen an, dass bereits im frühen 18. Jahrhundert Papierchen in die Mauer gesteckt wurden. Vermutlich wurden die ersten Briefe an Gott in den Taschen von Pilgern herbeitransportiert, im Auftrag jener, die den Weg zur heiligen Stätte selbst nicht machen konnten. Heute hingegen muss kein Beter mehr persönlich zugegen sein, um sein Briefchen in den Stein zu versenken: Dem modernen Pilger steht auch die digitale Nachricht an Gott offen, die dann ausgedruckt und in die Mauer gesteckt wird.
Bis der Messias kommt
Ganz einig sind sich die jüdischen Gelehrten allerdings nicht, ob die Zettel für Gott eine zulässige Gebetsgeste oder vielleicht doch eher eine Belastung für die heilige Stätte darstellen. Auch die Frage, ob nichtjüdische – und damit götzenverehrende – Nachrichten die jüdischen Zettel verunreinigen, taucht hier und da in der Debatte auf.
Dank des strikten Leseverbots herrscht in Sachen Nachricht an Gott Religionsfrieden. Nach Auskunft des göttlichen Reinigungspersonals kommen bei jedem Säubern rund zehn Säcke zusammen. Und alle Zettel werden ungelesen auf dem jüdischen Friedhof auf dem Ölberg begraben. Von hier, heißt es in der biblischen Prophezeiung des Sacharja, wird der Messias kommen. Bis es soweit ist, werden Jehoschua Rachamim und die anderen Helfer weiter zweimal im Jahr Raum schaffen in den Hohlräumen der Klagemauer.