In seinem Bestseller „Der Schatten des Galiläers“ hatte der Heidelberger Neutestamentler Gerd Theißen das Verfahren schon einmal erfolgreich angewendet: Eine fiktive Rahmenerzählung dient zur Darstellung Jesu in seiner Zeit, wobei möglichst alle historischen und bibelwissenschaftlichen Daten eingearbeitet werden. Mit derselben Originalität wird im vorliegenden Band Paulus im Geflecht seiner Um- und Mitwelt porträtiert. Die Hauptfigur der Rahmenhandlung ist ein römischer Rechtsanwalt mit dem bezeichnenden Namen Erasmus. Er wird gebeten, den angeklagten Paulus vor Gericht zu verteidigen. Dieser tritt zwar erst in der Mitte des Buches persönlich in Erscheinung. Aber die spannende Hinführung zur Begegnung von Rechtsanwalt und Klient im Gefängnis dient der facettenreichen Erkundung des Apostels im Spiegel unterschiedlicher Wahrnehmungen.
Indem Erasmus zudem auf Freiersfüßen unterwegs und an einer jungen gelehrten Jüdin interessiert ist, lässt Theißen auch aktuelle Fragen der Geschlechterbeziehung, der sozialen Rollenverteilung und des Selbstverständnisses von Mann und Frau zur Sprache kommen, von den gelehrten Liebesbriefen ganz zu schweigen. Ohnehin lebt der Roman im Zwiegespräch von heutigen und damaligen Glaubens- und Lebensfragen.
Zudem baut der Autor, grafisch abgesetzt, einen Briefwechsel des stoischen Erasmus mit seinem epikureischen Freund Philodemos ein. So gewinnt Theißen ein zusätzliches Stilmittel, um die Geschichte des Paulus in die philosophischen Strömungen der Zeit einzuzeichnen. Geradezu genial ist zum Beispiel der Briefwechsel über den Sklavenaufstand und die Moral.
Souverän bezieht Theißen auch abgelegene Quellen mit ein, um den historischen wie kulturellen Kontext der Pauluszeit zu vergegenwärtigen – und dabei doch eine schlüssige Erzählhandlung durchzuhalten, mit dem Besuch eines frühchristlichen Gottes und der Katastrophe nach dem Brand Roms. Wie beiläufig erfährt der Leser viel von römischen Sitten und jüdischen Bräuchen. Im Mittelpunkt steht natürlich der spirituelle Werdegang des Paulus vom jüdischen Christenverfolger zum „liberalen“ Judenchristen, der sich von der Jesusbotschaft universaler Gottesliebe zum „Enthusiasten der Liebe“, zum „Anarchisten des guten Willens“ verwandeln lässt. Was das für das paulinische Verständnis von Gesetz und Rechtfertigung bedeutet, bildet einen Höhepunkt des Buches: das Gespräch zwischen Paulus und Erasmus im römischen Gefängnis.
Theißen hat einen unterhaltsamen Roman verfasst, gespickt mit Fakten und originellen Interpretationen, erzählerisch bisweilen überfrachtet, aber hervorragend geeignet zur Erschließung paulinischer Biografie und Theologie. Bei allem intellektuellem Anspruch ist das Buch sehr gut lesbar.