Die uralten Fastentraditionen der Religionen sind so dumm nicht. Das zeigt auch der gängige Diätenmarkt. Heil und Heilung gehören nicht nur sprachlich zusammen. Abspecken und Entgiften tun Leib und Seele gut. Entsprechend gibt es Fasten in der Kirche, gerade jetzt vor Ostern. Bewusster Verzicht aufs Lügen ist derzeit in der evangelischen Kirche das Leitwort. Es gibt aber auch ein Fasten von der Kirche, ein Verzicht auf Leben in und mit den Kirchen – und das trotz tiefer christlicher Bindung, ja sogar gerade deshalb.
Hochengagierte Katholiken verzichten bewusst auf aktive Teilnahme am kirchlichen Leben – und zwar weil es ihnen zu nichtssagend und immer noch zu klerikal vorkommt. Sie suchen Abstand. Das geschieht schweren Herzens und ist ihnen wie ein Notschrei. Manche treten sogar aus wie einst Heinrich Böll. Die Kirche als Institution ist ihnen schier unerträglich geworden. Sie zahlen ihre Kirchensteuer gezielt woandershin. Sie gehen – paradox genug – ins Kirchenfasten um des kirchlichen Auftrags willen.
In einer Studie des Münchner Erzbistums wurden 2017 immerhin 1369 Katholiken befragt. Fast die Hälfte (41 Prozent) hat demnach schon einmal über den Kirchenaustritt nachgedacht, sieben Prozent seien fest dazu entschlossen, dreizehn Prozent unentschieden. Als besondere Schmerz- und Leidenspunkte wurden die Sexualmoral und das Frauenbild genannt. Bei gleichzeitig höchster Wertschätzung Jesu Christi und des Glaubens an ihn ist der Gottesdienstbesuch auffällig rückläufig. Die Kirchenbindung wird deutlich schwächer. Der Schluss, der gezogen wird, ist dennoch ermutigend: Es brauche mehr „qualitativ hochwertige Angebote“ und vor allem eine offensive Erschließung der Christus-Wahrheit in ihrer lebenspraktischen Bedeutung. Das erfordert eine andere Kirchengestalt.
Gewiss muss man die schleichende Entkirchlichung des Glaubens auch als eine schöpferische Selbstkorrektur jener verstärkten Verkirchlichung lesen, die seit dem 19. Jahrhundert in Gang kam. Glaube und Kirche, Kirche und Institution wurden fast gleichgesetzt. Wer in der Öffentlichkeit von Kirche sprach, dachte nahezu automatisch an Papst, Bischöfe, Priester, Haupt- und Nebenamtliche und an sonst niemand. So viel „Amtskirche“ wie seitdem war nie zuvor! Längst sind innerkirchliche Gegenbewegungen im Gange, die das gemeinsame Priestertum aller Glaubenden betonen und Abschied von der Beamtenkirche nehmen.
Doch das Bröckeln der Kirchenbindung geht viel tiefer. Es betrifft zum Beispiel das spirituelle und intellektuelle Niveau der Verkündigung und kirchlicher Vermittlungspraxis überhaupt. Bei nicht wenigen Predigten, Hirtenbriefen und Verlautbarungen hat man den bitteren Eindruck, es habe nie methodische Bibelforschung und Theologie gegeben. Dass zum Beispiel der Verfasser des Markusevangeliums die Mitte des Glaubens anders auslegt als jener des Lukas- oder Johannesevangeliums, wird kaum berücksichtigt – und das wiederum hat Folgen für die Deutekraft ihrer Texte. Die Bibel wird zum Einheitsbrei.
Zwar ruft Papst Franziskus mit Recht unermüdlich dazu auf, herauszugehen aus der kirchlichen Selbstgenügsamkeit, aber wo wird der – immer noch allzu spärliche – Dialog mit Natur- und Kulturwissenschaften, mit Kunst und Literatur im kirchlichen Alltagsleben (und seiner Sprache!) wenigstens gesucht oder gar spürbar? Ja, manche sind gefühlt in der Kirche, dem Taufschein nach, aber nicht mit dem Herzen. Andere sind dem Herzen nach dabei – Hirn und Hand nicht vergessen – und bleiben es auch. Aber sie entfernen sich immer mehr vom System und Apparat und womöglich von noch mehr. Kirchenfasten – eine Praxis der Enttäuschung und der Hoffnung, der Wut und der Sehnsucht.