Um die inhaltlichen Revisionsarbeiten am Gebäude der kirchlichen Sexualmoral vorzunehmen, muss man zum Glück nicht beim Nullpunkt anfangen. Die theologische Forschung hat in den vergangenen Jahrzehnten viel Vorarbeit geleistet und auch im Hinblick auf die umstrittenen normativen Einzelaussagen der lehramtlichen Sexualethik notwendige Korrekturen angemahnt. Diese entspringen keineswegs einer oberflächlichen Anpassung an den Zeitgeist, sondern einer Öffnung gegenüber den Erkenntnissen der gegenwärtigen Humanwissenschaften. Psychologischen, soziologischen und anthropologischen Aussagen über den Sinn der menschlichen Sexualität lassen sich nicht unmittelbar normative Forderungen über ihre Gestaltung entnehmen. Doch diese Erkenntnisse verhelfen der theologischen Ethik dazu, die Einseitigkeiten der bisherigen Rede vom vorgängigen Naturzweck der Sexualität zu überwinden und die anthropologische Grundlage ihrer Aussagen zu erweitern. Auf diese Weise kann sie die normativen Kurzschlüsse vermeiden, denen die lehramtliche Sexualmoral durch die ausnahmslosen Verbote jeder nicht auf die Fortpflanzung hin offenen sexuellen Betätigung innerhalb der Ehe unterliegt.
Nicht nur Fortpflanzung
Um es in der moraltheologischen Fachsprache zu verdeutlichen: Diese Verbote folgen in argumentationslogischer Hinsicht der sogenannten deontologischen Schlussfigur: „unerlaubt, weil naturwidrig“. Wird der Begriff des Naturhaften zu eng gefasst, indem man die vielfältigen sinnbestimmenden Faktoren der menschlichen Sexualität ausschließlich auf den Fortpflanzungszweck zurückführt, verlieren die auf dieser verengten anthropologischen Grundlage gezogenen normativen Schlussfolgerungen ihre argumentative Beweiskraft.
Die gegenwärtige Sexualwissenschaft unterscheidet verschiedene Sinndimensionen der Sexualität. Näherhin ist in ihr von der Lustfunktion, der Beziehungsfunktion, der Identitätsfunktion und der Fortpflanzungsfunktion die Rede. Bereits das Arbeitspapier „Sinn und Gestaltung menschlicher Sexualität“, das der Würzburger Synode der westdeutschen Bistümer (1971–1975) vorlag, übernahm diese grundlegenden Einsichten in die Sinnfülle menschlicher Sexualität und übertrug sie in eine einfühlsame und wertschätzende Sprache. Im Einzelnen benannte das Arbeitspapier, dem die deutschen Bischöfe damals die Zustimmung versagten, folgende Faktoren:
Zunächst bestimmt die Sexualität die ganze Existenz des Menschen. Sie prägt sein Mannsein oder sein Frausein. Eine zweite Einsicht lautet: Die Sexualität vermittelt dem Menschen existenzielle Erfahrungen, etwa in der Selbstbestätigung und in der Bestätigung durch den Partner, durch die Zuweisung von sozialen Rollen und durch die Förderung der personalen Entwicklung; im Erlebnis der Lust; in der Liebe zum Partner, im Angenommensein durch den Partner und in den sexuellen Ausdrucksformen dieser Liebe; in Zeugung und Erziehung des Kindes, im Geprägtwerden durch das Kind und durch die Selbsterfahrung im Vatersein und Muttersein. Drittens: Die Sexualität des Menschen ist nach wie vor auch durch Zeugung und Erziehung der Nachkommenschaft sozial bedeutsam.
„Mangel“ muss kein Mangel sein
Diesen sinnbestimmenden Faktoren, die über die anthropologische Bedeutung der menschlichen Sexualität Auskunft geben, können im Lichte ethischer Prinzipien drei Gesichtspunkte für die verantwortliche Gestaltung des Sexualverhaltens zugeordnet werden. Der Begriff „Sexualverhalten“ meint nicht nur einzelne sexuelle Handlungen, sondern das „Gesamtverhalten im Laufe des Lebens“, wie es in dem Synodenpapier heißt.
Gemäß dem Prinzip der Eigenliebe sollen im Sexualverhalten des Einzelnen die eigenen berechtigten Wünsche und Ziele zum Ausdruck kommen. Dazu gehört das lustvolle Erleben der Sexualität im Begehrtwerden durch den Partner beziehungsweise die Partnerin sowie die Erfüllung des eigenen sexuellen Verlangens. Das sexuelle Erleben stellt eine bedeutsame Vergewisserung der eigenen Identität dar, da im Begehrtwerden durch den anderen die Bedeutsamkeit des eigenen Daseins auf elementare Weise erfahren wird.
Dem Prinzip der Nächstenliebe entspricht, dass die berechtigten Belange und Wünsche des Partners zu berücksichtigen sind. Dieser muss um seiner selbst willen bejaht werden und darf nicht nur den eigenen Interessen untergeordnet bleiben. Das Prinzip der sozialen Verantwortung schließlich verlangt, dass auch der soziale Sinn der Sexualität und ihre Bedeutung für die Erhaltung der menschlichen Gesellschaft innerlich bejaht werden. Sexualität darf nicht auf ein Vehikel des privaten Glücks reduziert werden, sondern muss die grundsätzliche Offenheit für Kinder einschließen.
Entscheidend für die geforderte Kurskorrektur der Sexualethik, die das Ziel verfolgt, die Bedeutungsfülle menschlicher Sexualität in ihren positiven Gestaltungsmöglichkeiten zu bejahen und diese aus den normativen Fesseln der traditionellen Sexualmoral zu befreien, ist folgende Überlegung: Gemäß dem moraltheologischen Grundsatz bonum ex integra causa, malum ex quolibet defectu („Das Gute verlangt die vollständigen Bestandteile, das Schlechte geht aus jedem beliebigen Mangel hervor“) ging die traditionelle Sichtweise davon aus, dass eine einzelne sexuelle Handlung einzig dann vorbehaltlos gebilligt werden kann, wenn sie für die Verwirklichung aller denkbaren Sinnwerte offen ist. Dagegen stellt bereits der zeitweilige willentliche Ausschluss eines Sinnwertes – wie etwa bei der künstlichen Empfängnisregelung – oder die natürliche Unfähigkeit zur Verwirklichung eines Sinnwertes – wie etwa des prokreativen Sinnes im Falle gleichgeschlechtlicher Beziehungen – einen Mangel dar, der die Handlung in moralischer Hinsicht unerlaubt macht.
Im Unterschied dazu geht die gegenwärtige Sexualethik davon aus, dass eine verantwortliche Gestaltung menschlicher Sexualität zwar die Integration aller Sinnwerte in das eigene Sexualverhalten fordert, einzelne sexuelle Handlungen aber auch dann bejahenswürdig bleiben, wenn sie nicht alle Faktoren zugleich realisieren.
Das bedeutet: Bei der sexuellen Begegnung eines Paares können einmal mehr die Wünsche des einen, das andere Mal mehr die Erwartungen des anderen den Ausschlag geben. Nicht jeder Sexualakt muss zeugungsoffen bleiben. Auch das lustvolle Erleben des eigenen Körpers (heute oft self sex, also auf sich selbst gerichtete Sexualität genannt) kann einen verantwortlichen Umgang mit der eigenen Sexualität bedeuten. Dies gilt dann, wenn jemand allein lebt oder Rücksicht auf den Partner nehmen möchte. Schließlich verwirklichen auch gleichgeschlechtliche Handlungen positive Sinnwerte, insofern sie ein Ausdruck von Freundschaft, Verlässlichkeit, Treue und Hilfestellung im Leben sein können.
Allein in der Ehe?
Die vorgeschlagenen Korrekturen erfordern keineswegs einen vollständigen Bruch mit den Grundüberzeugungen der bisherigen kirchlichen Sexuallehre. Sie stellen jedoch eine offenere Anpassung ihrer Einsichten an den Wandel der Lebensverhältnisse und die geänderten humanwissenschaftlichen Einsichten in den Sinn der menschlichen Sexualität dar. So wird der Grundsatz der verantworteten Elternschaft – der in der säkularen Moralsprache häufig als Recht auf reproduktive Autonomie bezeichnet wird – um das Element der Familienplanung durch die freie Wahl eines der jeweiligen Lebenssituation angemessenen Mittels der Empfängnisregelung erweitert. Verantwortete Elternschaft meint dann das Recht eines Paares, gemeinsam ein verantwortliches Urteil über die Zahl der Kinder, die Abstände zwischen den Geburten und das konkrete Mittel der Familienplanung zu fällen. Da dieses Gewissensurteil der gegenseitigen Achtung der Partner und der Sorge um das Wohlergehen der Kinder verpflichtet ist, stellt Familienplanung auch mithilfe künstlicher Mittel der Empfängnisregelung keinen lebensfeindlichen Akt (wie von den lehramtlichen Verurteilungen unterstellt), sondern einen Dienst am Leben dar.
Der Grundsatz, wonach die Ehe der ausschließliche Ort legitimer Sexualbeziehungen ist, erfährt eine offenere Reformulierung, insofern die Alleingeltung der Ehe durch ihre Höchstgeltung abgelöst wird. Danach ist die monogame, auf Dauer eingegangene und mit dem festen Willen zur lebenslangen Treue geschlossene Ehe der beste biografische und institutionelle Rahmen, innerhalb dessen menschliche Sexualität ihren optimalen Entfaltungsraum finden kann. Allerdings gibt es Menschen, denen dieser Entfaltungsraum, zeitweilig oder dauerhaft, aufgrund schicksalhafter Beschränkung oder der Brüche im Lebenslauf verschlossen bleibt. Der Ratschlag in derartigen, häufig nicht frei gewählten Lebenssituationen, enthaltsam zu bleiben, stellt für viele betroffene Menschen eine Überforderung dar.
Das genannte Arbeitspapier der Würzburger Synode warf daher vorsichtig die Frage auf, ob es sich bei der Beziehung von Unverheirateten, sofern ihre Verbindung auf Dauer und Ausschließlichkeit angelegt ist, nicht um eine moderne Form der sogenannten klandestinen Ehe handelt, also um eine Ehe, die, was früher üblich war, heimlich geschlossen wurde. Eine solche Annahme könnte die Grundlage dafür sein, das gemeinsame sexuelle Leben solcher Paare positiv zu würdigen, sofern sie niemanden schädigen, sich gegenseitig Achtung entgegenbringen und partnerschaftlich miteinander umgehen.
In jedem Fall sind solche Beziehungen zwischen Unverheirateten anders zu beurteilen als Verbindungen, in denen mindestens ein Partner verheiratet ist; in diesem Fall verstößt die eheliche Untreue gegen die Forderung, dass niemand geschädigt werden dürfe. Allerdings sind derartige Verbindungen mit der Anfrage zu konfrontieren, ob eine Eheschließung wirklich unmöglich ist.
Das Beziehungswesen
Festhalten dagegen sollte die Kirche an einem Eheverständnis, das die Ehe als eine emotional-ganzheitliche Lebensgemeinschaft von Frau und Mann versteht. Dies entspricht nicht nur der fest in der biblischen Anthropologie verankerten positiven Sicht auf die menschliche Zweigeschlechtlichkeit, sondern auch der einhelligen Auskunft der Kulturgeschichte. Um dem Vorwurf glaubwürdig entgegentreten zu können, dadurch würden gleichgeschlechtliche und intersexuelle Menschen sowie Transgender-Personen diskriminiert, bedarf es allerdings einer vorbehaltlosen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften und des Verzichts darauf, die in ihnen gelebte sexuelle Praxis moralisch zu disqualifizieren. Ebenso sollte die Kirche in einer wertschätzenden Sprache anerkennen, dass es Menschen gibt, die sich nicht in eindeutiger Weise dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zuordnen können. Die Zweigeschlechtlichkeit entspricht einem anthropologischen Grundmuster des Menschseins, das sich jedoch nicht bei allen Menschen in gleicher Weise ausprägt.
Dieser öffentliche Diskurs zur sogenannten Heteronormativität steht allerdings in der Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Er stellt keine neutrale Sprachregelung dar, sondern verfolgt das Ziel, die Rede vom anthropologischen Grundmuster des Menschseins in Verruf zu bringen.
In der gegenwärtigen theologischen Ethik stößt der folgende Begründungsansatz einer sogenannten Beziehungsethik weithin auf Zustimmung: Beziehungsformen, in denen Werte wie Liebe, Freundschaft, Verlässlichkeit, Treue, gegenseitiges Füreinander-Einstehen und Solidarität gelebt werden, verdienen in moralischer Hinsicht Anerkennung und Respekt – unabhängig davon, unter welchem Vorzeichen sexueller Orientierung sie gelebt werden. Umgekehrt gilt: Sex mit wechselnden Partnern, offene Mehrfachbeziehungen, Untreue und von vornherein unter Vorbehalt eingegangene Beziehungen sind moralisch fragwürdig, und dies ebenfalls unabhängig von der sexuellen Orientierung der Betroffenen. Da die dabei vorausgesetzte Verbindung von Sexualität auf der einen, Liebe, Freundschaft und einer tragfähigen Beziehung auf der anderen Seite im säkularen ethischen Diskurs keineswegs selbstverständlich ist, soll sie abschließend näher erläutert werden.
Lust – Begehren – Liebe
Das Modell, das Sexualität als elementare Körpersprache und Ausdrucksform der Liebe versteht, wird darin zwar nicht grundsätzlich infrage gestellt, doch betonen viele gesellschaftliche Wahrnehmungsmuster stärker den problematisch-utopischen Charakter des Einklangs von Sexualität und Liebe, der daher nicht zum normativen Bezugspunkt einer moralischen Bewertung sexueller Verhaltensweisen gemacht werden dürfe. Der innere Zusammenhang zwischen Sexualität und Liebe darf nicht als ein äußerer Ausgleich gedacht werden, wie es der alten Lehre von den Ehegütern entsprach, die in der partnerschaftlichen Treue und im Kind einen Ausgleich für das Übel der Lust sah. Die Bindung einer verantwortlichen Gestaltung des sexuellen Lebens an eine tragfähige Liebesbeziehung zwischen den Partnern folgt vielmehr der Einsicht, dass Sexualität, soll sie in verantwortlicher Weise gelebt werden, nicht in Analogie zu Hunger und Durst, sondern nach dem Modell von Sprache und Mitteilung zu verstehen ist. Sie steht unter dem Grundgebot der Wahrhaftigkeit, weil sie eine intensive Form menschlicher Kommunikation ist, in der Frau und Mann in leib-seelischer Einheit ihre Zuneigung zueinander ausdrücken. Sexualität bleibt auch als begehrende Liebe und in der Form des sexuellen Verlangens ein Verhältnis zwischen Personen, die einander in ihrem ganzheitlichen Sein zugewandt sein sollen. Sie dient der Erfüllung eines menschlichen Grundbedürfnisses: dem Aufbau eines Schutzraumes von Intimität und Verlässlichkeit. Dabei vermittelt Sexualität existenzielle Grunderfahrungen wie Geborgenheit, Selbstsicherheit sowie die Fähigkeit zur Verantwortung und Hingabe an den anderen.
Durch die Liebe verändert sich die Struktur des Habens im sexuellen Erleben: Ich besitze den Partner nicht für mich, sondern der andere wird als derjenige begehrt, dem ich mich hingeben darf und dessen Hingabe ich empfange. Der evangelische Theologe Eberhard Jüngel hat diese von einem objekthaften Besitz unterschiedene Weise des Sich-füreinander-Begehrens auf die einprägsame Formel gebracht: „In der Liebe gibt es kein Haben, das nicht der Hingabe entspringt.“ Dennoch bleibt der Sexualtrieb von seinem Wesen her begehrende Liebe, die aus einem triebhaft-affektiven Bedürfnis hervorgeht und Erfüllung im Anderen sucht. Darin, dass die begehrende Liebe aus einem Bedürfnis hervorgeht und Erfüllung in dem sucht, was ihr fehlt, ist sie menschliche Liebe.
Die ekstatische Struktur des sexuellen Begehrens darf keineswegs mit einem egoistischen Gebrauchenwollen in eins gesetzt werden, das die Würde des Partners missachtet. Der geliebte Partner selbst verlangt ja danach, vom anderen begehrt zu werden. Er will nicht, dass dieser ihm gleichgültig bleibt und ihm desinteressiert mit achtungsvollem Wohlwollen begegnet. Vielmehr gehört das Erleben der eigenen Attraktivität für den Partner zu der Selbstachtung hinzu, die Frau und Mann als sexuell geprägte Wesen empfinden. Verbindet sich das sexuelle Begehren des anderen mit der Liebe, so fällt das Außer-sich-Sein, das der ekstatischen Struktur des Begehrens entspricht, mit dem Beim-anderen-Sein zusammen, das das Verlangen der Liebe prägt. Dies mag ein anspruchsvolles, im Hinblick auf die tatsächlich gelebten sexuellen Verhältnisse der Menschen oftmals auch utopisches Ideal sein. Es stellt jedoch keine grundsätzliche Überforderung des Menschen dar. Diese Sichtweise entspricht seinem Charakter eines körperhaften, zur Liebe fähigen und anerkennungsbedürftigen Wesens.