Wie kaum ein anderer deutscher Journalist war Joachim Jauer Augenzeuge, Chronist und Kommentator jener Ereignisse, die Europa 1989/90 auf revolutionäre Weise veränderten. Anfang Mai 1989 wagte der sonst eher zurückhaltende Korrespondent im „Heute“-Journal eine Prognose, die es in sich hatte. Angesichts des Abbaus tödlicher Grenzanlagen durch ungarische Pioniere werde es, so seine Einschätzung, nicht nur an der Grenze zu Österreich bald gewaltige Veränderungen geben: „Hier endet heute die 40-jährige Teilung Europas. Das wird unabsehbare Folgen für Deutschland, für die DDR haben.“
Mit seinem prophetischen Satz lag der langjährige Leiter von „Kennzeichen D“ richtig. Bloß wenige Wochen später registrierte die DDR-Staatssicherheit, dass sich Zehntausende entschlossen hatten, ihren Sommerurlaub ausgerechnet in Ungarn zu verbringen. Ihre spätere Flucht über die ungarisch-österreichische Grenze und weiter in die Bundesrepublik wurde zur Initialzündung für die Massenproteste in Leipzig, Dresden, Pirna und Ost-Berlin: Was folgte, waren der Mauerfall und die friedliche Revolution.
„Der Sykophant“ (griechisch: „Verräter, Spitzel“) – so nennt der studierte Altphilologe und politische Publizist seine jüngste Veröffentlichung, die in der Endphase der DDR sowie im Jahr 2016, im von Papst Franziskus ausgerufenen „Jahr der Barmherzigkeit“, angesiedelt ist. Damit wechselt der Reporter in die Rolle des Schriftstellers. Jauers Buch ist zwar fiktiv, frei erfunden, der Autor verarbeitet jedoch reale Erfahrungen und Ereignisse wie das Denunziantentum oder die Flucht eines aus dem katholischen Eichsfeld stammenden jungen Mannes, der sich, „die Fernsehbilder von der Öffnung des ‚Eisernen Vorhangs‘ an der Grenze zu Ungarn im Kopf“, im Spätsommer ‘89 auf den Weg in den Westen macht. Jauer erzählt, wie sich sein Protagonist Martin Fuhlrott nach inneren Kämpfen schließlich dazu durchringen kann, in dem Verräter Werner Blaschke einen schuldig gewordenen Mitmenschen und Nächsten zu erkennen, aber da ist es beinahe schon zu spät.
Weil in der „neuen Zeit“ keiner mehr die Bekenntnisse eines Spitzels und Stasi-Zuträgers hören will, hat Blaschke nämlich über sich selbst ein radikales Urteil gesprochen: die Todesstrafe. Fuhlrott: „Ich habe gehört, dass es ein Suizidversuch war. Ist es ernst?“ „Sehr ernst, ein lebensgefährlicher Pillencocktail“, so der Arzt. Es ist nicht zuletzt der Umstand, dass Fuhlrott durch sein christliches Elternhaus begriffen hat, dass Schuld, die bekannt wurde, nach Vergebung und Barmherzigkeit verlangt.
Aber ist es für einen Denunzianten möglich, durch die „Pforte der Barmherzigkeit“ zu gelangen? Darf er angesichts eines Verrats, der Kollegen hinter Gitter brachte, auf Vergebung hoffen? „Blaschke“, schreibt Jauer über die Begegnung mit dem Sterbenden, „hatte ein Einzelzimmer. Er brauchte eine künstliche Atemhilfe. Fuhlrott sah sofort, dass dieser ihn erkannte, und lächelte. Er hatte ihn noch nie lächeln, allenfalls grinsen gesehen … Er machte ein Zeichen, dass er etwas aufschreiben wollte. Fuhlrott gab ihm Kugelschreiber und Papier. Blaschke schrieb: ‚Wenn niemand verzeiht, dann Gott auch nicht. Gott verzeiht nur durch Menschen.‘“
Joachim Jauer zeigt in seinem Buch, was die Seelen vieler Ostdeutscher auch im dreißigsten Jahr seit dem Mauerfall bewegt. Da es wenige Theologen und Kirchenleute gibt, die diese Wirklichkeit zu Wort bringen, sei das Buch Seelsorgerinnen und Seelsorgern in Ost und West zur Lektüre empfohlen.