Die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern gehört zu den schönsten Erzählungen der Bibel. Eigentlich steht Jakob im Mittelpunkt, der Stammvater Israels, und dann natürlich sein Lieblingssohn Joseph. Wegen seiner Erwählung ist er den Brüdern verhasst. Sie wollen ihn vernichten und verkaufen ihn nach Ägypten. Dort macht er aber Karriere. Als die großen Hungersnöte kommen, kann er seine gefährdeten Brüder retten. Es kommt zur Versöhnung.
Das ist das Gründungsereignis der „Eidgenossenschaft“ Altisrael aus zwölf Stämmen. So erzählt es das Buch Genesis. An der Geschichte haben viele Generationen mitgeschrieben. In ihr spiegeln sich die Spannungen zwischen dem Nordreich Israel/Efraim, für das Joseph steht, und dem Südreich Juda mit dem gleichnamigen älteren Bruder. Der Text bildet das Miteinander-Konkurrieren der zwölf Stämme literarisch ab. Aber auch die spätere Zerstreuung Israels in die ausländische Diaspora ist da schon gegenwärtig. Alles wird rückblickend im Wissen um das Exil erzählt. Die entscheidende Botschaft für alle Zeit jedoch lautet: Israel lebt dank Gottes Treue, befreit aus Ägypten (und Babylon), trotz allem in versöhnter Geschwisterlichkeit. Es ist ein zwölfteiliger Segen und soll für alle Völker zum Segen sein (Gen 48ff). Joseph spricht diese Pointe am Schluss vor seinen Brüdern selbst aus: „Ihr habt Böses gegen mich im Sinn gehabt, Gott aber hatte dabei Gutes im Sinn, um zu erreichen, was heute geschieht: viel Volk am Leben zu erhalten“ (Gen 50,20).
Schöpferische Einbildungskraft
Die dramatische Erzählung von Jakob und den Zwölfen lässt sich auch als Wachstumsgeschichte lesen, als weisheitlicher Bildungsroman, als ideale Reifungsgeschichte. Das hat schon Goethe fasziniert und zum Nach- und Weitererzählen gereizt. Thomas Mann schrieb an seinem entsprechenden Roman mehr als zwanzig Jahre. In den Anfängen 1926 notierte er in einem Brief: „Mein eigentlicher Text steht in der Bibel. Es ist der Segen des sterbenden Jakob über Joseph: ‚Von dem Allmächtigen bist du gesegnet, mit Segen oben vom Himmel herab, mit Segen von der Tiefe, die unter dir liegt.‘“ Das sei für ihn als Dichter der „produktive Punkt“, „bei dessen Berührung einem regelmäßig das Herz aufgeht“.
So ist ein originaler Roman der Weltliteratur entstanden, der in der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe der Werke Manns neu herausgegeben wurde: zwei Bände Text und zwei Bände gelehrter Kommentar zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte, mit einem Glossar der Fremdworte und jeder Menge weiterer Materialien.
„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“ Schon dieser erste Satz des Romans, eine der berühmtesten Intonierungen der Weltliteratur, nimmt die Leser hinein in eine schier unendliche Spurensuche. Die Geschichte im Ganzen und jede Figur in ihr ist hintergründig, mehrfach belichtet, „nach hinten offen“, wie es von einer der Schlüsselgestalten, dem alten Eliezer, heißt. In ironischem Stil schauen sich der Joseph im Roman und sein Schöpfer selbst über die Schulter und locken den Leser augenzwinkernd in Mitwisserschaft zwecks tieferer Aufklärung: Alles ist so – und ist es doch wieder nicht, denn es kommt von weit her. Josephs Geschichte ist deine und ist jede, vorbildhaft und archetypisch.
Dass der Roman ebenso theologisch und spirituell große Unterhaltung und Inspiration bietet, liegt allein schon am Stoff. Aber es hat seinen Grund noch viel mehr darin, dass Mann das gesamte Bildungswissen seiner Zeit verarbeitet und so der Jahrhundertfrage nachgeht, wie denn nach Nietzsches Tod Gottes vernünftig noch an Gott geglaubt werden könne – und wie sich der biblische Glaube zu den Religionen damals und heute verhalte. Mann hat insbesondere die religions- und kulturwissenschaftlichen Kenntnisse seiner Zeit nach gründlichem Eigenstudium aufgenommen. Dabei war er fasziniert von psychoanalytischen und tiefenpsychologischen Sichtweisen, kenntnisreich auch in Religions- und Lebensphilosophie.
Es wäre daher sinnvoll, die Josephsgeschichte zum Beispiel auch als vielfach belichtete Christusgeschichte zu lesen, mit mythischen Vorläufergestalten wie etwa dem ursprünglich wohl syro-phönizischen Vegetationsgott Adonis, dem ägyptischen Gott des Jenseits Osiris oder dem babylonischen beziehungsweise assyrischen Hirtengott Tammuz. „Als wär’s ein Stück von mir“, lässt sich „Joseph und seine Brüder“ auch als Kultur- und Bildungsgeschichte der Humanität deuten, als Aufgipfelung aufgeklärter bildungsbürgerlicher Menschlichkeit. Manch andere Lektüre legt sich nahe etwa im Blick auf Sexualität und Genderfragen. In dem Werk finden sich viele Juwelen literarischer Kunst und religiöser Reflexion, unter anderem „Von der Schönheit“ oder „Von absprechender Liebe“. Der aufgeklärte Protestant Mann hat es sich mit Religion und Mystik nicht leicht gemacht: Die Präsenz etwa Meister Eckharts wäre ein eigenes Thema. Gerade die Vielfalt der Lesarten macht den Josephs-Roman postmodern interessant. Stets gibt der ungemein kenntnisreiche Kommentar weiterführende Hinweise.
Wie Abraham Gott entdeckte
Ein literarisches Prachtstück, das im Religionsunterricht besprochen gehört und das mancher Predigt Witz und Tiefenschärfe gäbe, ist der Abschnitt „Wie Abraham Gott entdeckte“ – eine Art „Genese des hebräischen Monotheismus“, so der Ägyptologe Jan Assmann im Kommentar. Zugleich spiegelt sich darin die Herkunftsgeschichte des personalen Gottesglaubens. Es handelt sich um eine wechselseitig offene Werdegeschichte zwischen Gott und Mensch, eine dramatische Beziehungsgeschichte, voller Seligkeiten und Abstürze bereits bei Abraham. Solche Beziehungsarbeit ist wahrhafte „Gottessorge“, „Arbeit am Göttlichen“. Gemeint ist eine Entdeckung, nicht eine Erfindung Gottes, wenn auch beim begeisterten Nietzsche-Leser Thomas Mann der atheistische oder doch agnostische Hintergrund mitschwingt. Der Gott der Josephs-Geschichte ist „ein ‚werdender‘, von archaisch-magischen zu rein geistigen Qualitäten, von mythischer Urtümlichkeit zu menschenfreundlich-verheißungsvoller Zukunftsbezogenheit fortschreitender Gott“, wie der Dichter in einem späteren Brief schreibt. Gott kommt zur Welt (und zu sich) nur in der mitschöpferischen Kraft des Menschen, der in sich selbst am Werden dieses Gottes teilnimmt und ihn „hervordenkt“. Dadurch erst wird offenbar, was der Mensch selbst ist, zwischen Untermensch und Übermensch. „Ich weiß, dass ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben; / Werd ich zunicht, er muss von Not den Geist aufgeben“, zitiert Mann zustimmend Angelus Silesius. In dem kleinen Abschnitt „Wie Abraham Gott entdeckte“ ist die Musik des ganzen Romans verdichtet.
Warum-Fragen
Die Dramatik dieser episch dahinfließenden Erzählung von Abrahams und dann Josephs Selbst- und Gottesentdeckung(en) zeigt eindrücklich das siebte Hauptstück, „Der Zerrissene“. Der Erzähler nimmt die Bilderwucht des Hiob-Buches zu Hilfe, um den Kampf Jakobs mit Gott beschreibend einzuholen, nachdem jener vom – vermeintlichen – Verlust seines Lieblingssohnes Joseph erfahren hat. Die große Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Leids wird im Mund des gequälten Jakob zum Vorwurf an Gott, er habe den Bund gebrochen und somit die gemeinsame „Gottesarbeit“ zunichtegemacht. Die Beziehungsarbeit zwischen beiden – „dass sie recht würden einer im anderen, was sie sind, und heilig würden einer im anderen“ – ist anscheinend gescheitert. Dabei hatte Mann im Abschnitt „Wie Abraham Gott entdeckte“ schon notiert: Gott „war nicht das Gute, sondern das Ganze“. Er umfasst Gut und Böse, er ist sozusagen die Kugel der Wirklichkeit im Ganzen. Jetzt aber zeigt sich diese „runde“ Wirklichkeit wechselseitig gemeinsamen Erwachens und Erwachsens wie zerbrochen: „Gott hat nicht Schritt gehalten“. Dennoch geht die Entdeckungsgeschichte gerade dadurch weiter. Denn „in solchen Fällen erfolgt keine Antwort. Aber der Ruhm der Menschenseele ist es, dass sie durch dieses Schweigen nicht an Gott irre wird, sondern die Majestät des Unbegreiflichen zu erfassen und daran zu wachsen vermag.“
Diamanten im Textgebirge
Im Finale des Romans kann der alte Jakob nicht fassen, dass sein schmerzlich vermisster Liebling in Wirklichkeit lebt. Die Enkelin lenkt ihn mit religiös vieldeutigen Liedern ab und stimmt ihn so doch ein auf das erschütternde Wiedersehen. Der Alte besteht dabei nachdrücklich auf seinem Glauben an den Einzigen: „Denn Gott ist eine Anstrengung, aber die Götter sind ein Vergnügen.“ Hochaktuell ist das in einer polytheistischen Welt voller religiöser und säkularer Sinnangebote!
Pikanterweise erklärt Jakob eher beiläufig, mitten in der Hochzeitsnacht, in der dem Bruderbetrüger die falsche Frau untergeschoben und er seinerseits betrogen wird, was als kleine Summe seiner Einsicht gelten kann. Da heißt es dann: „Die Väter und ich, wir haben wohl nachgesonnen manche Zeit bei den Hürden, wer Gott sei, und unsere Kinder und Kindeskinder werden uns folgen im Sinnen. Ich aber sage zu dieser Stunde und mache hell meine Rede, dass die Finsternis vor ihr zurückweicht: Gott ist die Unterscheidung!“