Wer eine Krebserkrankung überlebt, wer mehrere Operationen übersteht, gilt als geheilt. Chirurgisch gesehen, stimmt das vielleicht. Auch wenn ich täglich Spät- und Langzeitfolgen von Chemo- und Strahlentherapie spüre. Und auch wenn es problematisch (aber eine oft bemühte Illusion) ist, eine OP mit einer Reparatur zu vergleichen. Aber onkologisch gesehen? Da bin ich vorsichtiger geworden.
Bin ich jetzt gesund? „In die Irre führt die Definition der Weltgesundheitsorganisation, die in bester Absicht dekretierte, Gesundheit sei körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden – wer aber ist dann noch gesund?“ So der Linzer Bischof Manfred Scheuer in seinem Artikel „Ganz Mensch auch in der Krankheit“. Der ehemalige Trierer Dogmatikprofessor verweist auf das in Medizinerkreisen augenzwinkernd vorgetragene Wort: Gesund sei eine Person, die nur noch nicht ausreichend untersucht worden ist.
Von ärztlichen Untersuchungen habe ich vorerst genug. Natürlich muss ich regelmäßig zu Kontrollen. Vielleicht höre ich jahrelang: Alles in Ordnung, die Blutwerte stimmen. Und dann, auf einmal, nach vier Jahren oder nach sieben: „Wir haben Metastasen gefunden!“ Davor graut mir schon ein wenig.
Nachher ist ja nicht mehr wie vorher. Kleinere Nachteile bleiben. Wie lange, weiß ich nicht. Aber verabschiedet habe ich mich von dem Gedanken, Gesundheit sei sozusagen eine Ware, ein Produkt: verfügbar und verwaltbar wie nur irgendetwas. Über Nacht kann ja wieder alles anders kommen.
Das Motto der Vorarlberger Hospizbewegung, das deren langjähriger Seelsorger Elmar Simma gern bemüht, hat es mir angetan: „Endlich leben!“ Simma schreibt: „Wird das ,endlich‘ betont, dann heißt das immer, dass unser Leben begrenzt und einmal zu Ende ist. Je mehr uns das bewusst wird, umso mehr können wir wirklich ,leben‘, bewusst, dankbar, aufmerksam.“ Das lässt sich einüben. Dafür ist aber ein Arbeiten an sich selbst nötig. Denn der Alltag ist schnell zurück, mit seinen Erwartungen ebenso wie mit seinen Forderungen. Er fragt nicht nach meinen letzten fünfzehn Monaten. Und schnell bleibt es bei dem berühmten „frommen Wunsch“. Gut gemeinte Vorsätze pflastern unseren Lebensweg, sie werden in Krisen gefasst oder während einer Erkrankung, an Wendepunkten des Lebens – und gehen oft schnell wieder unter. Endlich leben: eine Haltung, die alltäglich werden kann, die zu meinem Tagesablauf gehört wie das Zähneputzen oder die Abendnachrichten.
Bin ich ein neuer Mensch geworden? Nein. Auch das ist eine Illusion! Neulich bin ich wieder einmal aus der Haut gefahren, ziemlich impulsiv, und habe mich heftig über einen Mitbruder aufgeregt, von dem ich mich abgekanzelt fühlte. Solche Aufregungen tun mir einfach nicht gut. Schon wenig später fragte ich mich: War’s das wert? Hätte ich nicht auch „wohltemperierter“ reagieren können? Lohnt es, derart überzureagieren?
Wenn man das Lassalle-Haus, das Bildungshaus der Schweizer Jesuiten oberhalb des Zuger Sees, ein weit über den Kanton hinaus bekanntes Zentrum für interreligiösen Dialog, verlässt, begegnet man an der Ausfahrt beim Parkplatz einer Stele. Sie zerstört jede „fromme Illusion“, man gehe nach einem Wochenendkurs oder nach Exerzitien – sozusagen gut geschützt gegen den Schmerz der Welt – als völlig neuer Mensch zurück in den Alltag. Auf der Stele steht: „Der Weg beginnt jetzt – auf Wiedersehen!“
So ist es auch „nach“ einer Erkrankung. Wer überlebt, spürt schnell: Es beginnt ein Weg. Zu Ende ist nur die Behandlung. Der „neue“ Mensch, der weiterlebt, darf nicht vergessen, den alten Menschen einzuladen, den weiteren Weg mitzugehen. Gestalten und gehen muss den Weg jeder selbst. Seine „Natur“ nimmt man mit: sein Temperament, seinen Charakter, seine ganz konkreten Lebens- und Verhaltensweisen, seine Spontanreaktionen. Automatisch ändert sich da nichts. Der Mensch ist und bleibt ein „Gewohnheitstier“. Was ich begonnen habe: darum zu beten, dass ich mir meiner Verwundungen bewusst bleibe. Denn das verändert was. Nicht nur, wenn ich beim Duschen die Narben sehe.