Die historisch-kritische Auslegung der Bibel als Langzeitfolge der Reformation ist ein „einzigartiges Ruhmesblatt“ der Wissenschaftsgeschichte. Denn die Heilige Schrift wurde auf diese Weise zum „besterforschten Text der Welt“. Allerdings mit „paradoxen Folgen“, wie der Theologe, Kulturwissenschaftler und Publizist Eckhard Nordhofen in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erläutert hat. Denn inzwischen sei „die Aura einer Heiligen Schrift“ dahin, ihr „Fundament zerbröselt“. Wurde die Bibel durch die modernen Methoden der Interpretation dermaßen seziert, dass sie darüber auseinandergefallen, ihr Geist entschwunden ist? Auch unter Evangelischen, die doch in besonderer Weise allein durch die Schrift den Maßstab des Christusglaubens, den Willen Gottes erkennen wollen, breite sich Ernüchterung aus. Der Theologe Ingolf Dalferth sprach bereits von der „Gutenberg-Falle“. Man müsse wieder lernen, „den Sinn des Evangeliums“ vom „Buchstaben der Schrift“ zu trennen.
Nordhofen fragt im Anschluss daran, wie Gott, der „kein Ding in der Welt, sondern ihr großes Gegenüber ist“, im Leben wieder gegenwärtig gemacht werden kann. „Wenn das Christentum als Religion weiter existieren will, darf es nicht am Buchstaben kleben und sich nicht auf Ethik und Politik beschränken. Und es darf sich nicht von allem Kult verabschieden. Gerade Kult und Ritus, erlebbar und erhaben, erlauben es allen, den intellektuellen und den schlichten Gemütern, die andere Wirklichkeit des großen Gegenübers auf erlöste und festliche Weise zu markieren. Als Gegenmacht zu einem Funktionalismus, der immer mehr totalitäre Züge annimmt, bleibt das Christentum ein Faszinosum. Ein unsichtbarer Gott mit dem Namen ‚Ich bin da‘ wird zum Anderen des Funktionalismus.“