Umstrittene Künstler, umstrittene KunstDer dunkle Nolde – auch in uns

Darf man Bilder, Musikstücke, Filme schön finden, wenn man weiß, dass sie von Menschen mit ausgeprägten dunklen Seiten geschaffen wurden? Das wird derzeit an Emil Nolde und anderen diskutiert. Es berührt indes Fragen, die weit über die Kunstwelt hinausgehen.

Ein Bildband, gerade mal fünfzehn Jahre alt. Emil Noldes Werk wird darin in den höchsten Tönen gelobt. Es gehöre „zu den revolutionärsten und einflussreichsten Leistungen der deutschen Kunst des vergangenen Jahrhunderts“. Vom „führenden deutschen Expressionisten“ ist die Rede. Bis heute inspiriere der friesische Künstler unzählige Nachahmer, von denen er gleichwohl nie erreicht werde. „Am liebsten möchte man aquarellieren wie Emil Nolde. Wer einen Tuschkasten besitzt, kennt diesen schönen Traum gut und genauso das Scheitern, das dem Versuch auf dem Fuß folgt“, schrieb die Kulturjournalistin Anna Brenken (in: „Emil Nolde und seine Landschaften“).

Die Bewunderung des Publikums für Nolde ist ungebrochen. Gerade auch seine biblischen Motive finden über Postkarten und Kalenderblätter nach wie vor weite Verbreitung: sein Bilderzyklus „Das Leben Christi“ (1911/12) beispielsweise, das berühmte Pfingstbild von 1909 oder das „Verlorene Paradies“ aus dem Jahr 1921 (siehe die Abbildung auf der ersten Seite). Es sind „keine ‚Andachtsbilder‘ im traditionellen Sinne, sondern Bekenntnisse einer persönlichen Gotterfahrung, die uns in die Glaubenswelt urchristlicher Gemeinschaften zu führen scheint“, heißt es in einem populären Kunstlexikon aus den achtziger Jahren.

Inzwischen betrachtet man Noldes Bilder jedoch mit gemischten Gefühlen. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die die Kunst des friesischen Malers eigentlich schätzt, ließ sogar zwei seiner Werke aus ihrem Amtssitz entfernen. Und eine aktuelle Ausstellung im „Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart“, einer Außenstelle der Nationalgalerie in Berlin, mahnt eine kritische Auseinandersetzung, ja eine Neubewertung des Künstlers an. Nolde und sein Werk einfach zu feiern, wie es noch bis zuletzt üblich war, das gehe nicht mehr.

Der Umschwung ist in der Person des Malers begründet. Neue Forschungen haben ergeben, dass Emil Nolde keinesfalls der „künstlerische Widerständler“ gegen den Nationalsozialismus war, als der er sich nach dem Zweiten Weltkrieg selbst inszeniert hatte. Auch die Lebensbeschreibung, die Siegfried Lenz in seinem Roman „Deutschstunde“ von Nolde entworfen hat, muss man als Märchen, ja als unzulässige Verklärung der Geschichte betrachten. Der Schriftsteller erzählt darin von dem unterdrückten expressionistischen Maler Max Ludwig Nansen, in dem man ohne Mühe das – behauptete – Schicksal Noldes wiedererkennen kann.

Im Kanzleramt abgehängt

Doch das Gegenteil ist wahr: Emil Nolde war das, was heute als „Rassist“ bezeichnet wird, er war extrem antisemitisch eingestellt. Gerade nach 1933 sei er deshalb ein „begeisterter Unterstützer des nationalsozialistischen Regimes“ gewesen und habe sich im weiteren Verlauf „erschreckend radikalisiert“, erläutert Udo Kittelmann, der Direktor der Nationalgalerie, im Katalog zur Berliner Ausstellung. Selbst als ihn die Nazis als „entartet“ diffamierten, buhlte Nolde um ihre Anerkennung. Und das 1941 gegen ihn verhängte Malverbot redete er sich als das übliche Unverständnis schön, das allen großen Geistern widerfährt, die ihrer Zeit voraus sind.

Die Belege, die in Berlin gezeigt und im Katalog dokumentiert werden, lassen keinen Zweifel an Noldes übler Gesinnung zu. Sie sind äußerst bedrückend. Nolde wiederholt in Briefen und Notizen mit Inbrunst das Gefasel von einer jüdischen Weltverschwörung, das seit Jahrhunderten durch die Geschichte wabert. Das Großkapital der Juden kontrolliere die Regierungen, ja den Lauf der Geschichte. Juden hätten sich „tief in alle Völker hineingebohrt“. Dass man sie daraus jetzt entferne, könne „nicht ohne viel Weh geschehen“, schrieb Nolde – und noch weiteres, kaum Erträgliches.

Seine Bilder im Kanzleramt abzuhängen, ist angesichts solcher Äußerungen mehr als verständlich. Es geht nicht an, dass „ausgerechnet im Zentrum der deutschen Demokratie Werke eines Mannes hängen …, der ein Antisemit, ein Verehrer Hitlers und ein Freund des Nationalsozialismus war“. So hat es der Verleger Florian Illies in der „Zeit“ auf den Punkt gebracht.

Aber jenseits dieses „Sonderfalls“ ist das Thema alles andere als erledigt. Denn die Frage bleibt: Darf man die Kunst eines Malers schön, ja ergreifend finden, dessen Weltanschauung einen nur erschrecken lässt? Kann man ein Kunstwerk völlig losgelöst von seinem Schöpfer betrachten? Muss man es vielleicht sogar? Oder wie viele dunkle Seiten, die jeder Mensch in sich trägt, sind bei einem Künstler hinnehmbar, damit sein Werk weiter Geltung beanspruchen kann?

Emil Nolde ist kein Einzelfall. Quer durch alle Kunstgattungen finden augenblicklich ähnliche Debatten statt. Im Musikgeschäft etwa wird wieder einmal über den selbsternannten „King of Pop“ (König der Popmusik), Michael Jackson, diskutiert. Gegen den amerikanischen Sänger, der 2009 gestorben ist, sind bereits in der Vergangenheit immer wieder Vorwürfe sexuellen Kindesmissbrauchs erhoben worden. In einer Fernsehdokumentation vom März beschuldigen nun zwei Männer den Künstler, sie missbraucht zu haben, als sie noch Kinder waren. Das hat die öffentliche Meinung kippen lassen.

Die Missbrauchs-Künstler

Auch hier steht ein großes, beliebtes und immens erfolgreiches Werk – allein Jacksons Album „Thriller“ von 1982 soll 66 Millionen Mal verkauft worden sein – einer mehr als fragwürdigen Künstlerpersönlichkeit gegenüber. Die ersten Radiostationen in Kanada und Holland verbannten den Sänger bereits aus dem Programm. Deutsche Sender sind angesichts der großen Fangemeinde bislang noch zurückhaltend. Aber auch im Zusammenhang mit einer laufenden Ausstellung in der Bundeskunsthalle in Bonn über die Wirkung Michael Jacksons auf die Kunstgeschichte überlegte man, ob eine solche Schau angesichts der neuen Missbrauchsvorwürfe vertretbar ist. „Fühlt sich falsch an“, lautete das Urteil der Journalistin Carola Padtberg auf „Spiegel online“.

Und noch eine weitere Kunstsparte ist betroffen. Der amerikanische Schauspieler Kevin Spacey wurde gefeiert für seine Darstellung des skrupellosen Politikers Francis Underwood in der Fernsehserie „House of cards“ (Kartenhaus). Dann wurden Vorwürfe laut, Spacey habe in der Vergangenheit jüngere männliche Schauspielkollegen sexuell belästigt. Darf man die Serie, die mit mehreren Fernsehpreisen wie dem Emmy und dem Golden Globe ausgezeichnet wurde, weiterhin gut finden? Und wie sieht es mit dem von Spacey so hervorragend verkörperten Charakter aus? Die Produktionsfirma entschied sich für einen radikalen Schritt: Kevin Spacey wurde entlassen, „House of Cards“ wurde ohne den bisherigen Hauptdarsteller zu Ende gebracht. Auch aus einem weiteren Film wurde Spacey herausgeschnitten, seine Szenen hat man mit einem anderen Darsteller nachgedreht.

Wer einmal aufmerksam auf diese Vorgänge geworden ist, entdeckt sie derzeit allerorten. Jahrzehntelang hat es zum Beispiel niemanden gestört, dass ein katholisches Studentenwohnheim in Freiburg „Alban-Stolz-Haus“ hieß. Dabei war es nie ein Geheimnis, dass der namensgebende Theologe und einst vielgelesene Volksschriftsteller aus dem 19. Jahrhundert eben auch ein Judenhasser war. Bislang schien es jedoch ausreichend, ihn langsam ins Vergessen fallen zu lassen. Wer kennt denn noch Alban Stolz, wer interessiert sich für ihn? Seine Werke werden nicht mehr aufgelegt. Aber jetzt scheint es eben nicht länger angemessen, die Dinge derart zu deckeln beziehungsweise laufen zu lassen. Deshalb ging das Erzbistum Freiburg als Träger des Wohnheims an die Öffentlichkeit und erklärte, dass Alban Stolz „nach heutigen Maßstäben … nicht mehr als Vorbild für Studierende gelten“ kann. Warum eigentlich erst jetzt, könnte man da fragen? Warum erst nach „heutigen“ Maßstäben? Das Wohnheim wurde jedenfalls vergleichsweise elegant zum „St. Alban-Haus“ umgetauft, nach dem heiligen Alban von Mainz, einem Missionar aus dem vierten Jahrhundert.

Gesucht: „besenreine Kunst“?

Die kritischen Anfragen an Künstler und ihre Neubewertungen finden in den verschiedensten Zusammenhängen und aus den unterschiedlichsten Gründen statt. Neben antisemitischen Ausfällen und sexueller Gewalt sind genauso „linke“ Künstler betroffen. Erinnert sei daran, wie sehr einst die Schriftstellerin Christa Wolf wegen ihrer früheren – allerdings eher unspektakulären – „Berichte“ an die Staatssicherheit des DDR-Regimes beziehungsweise wegen ihrer ungebrochenen Sympathie für den „Sozialismus“ angegangen wurde. Etwas anders liegen die Fälle bei den Bands „Feine Sahne Fischfilet“ und „K.I.Z.“. Sie werden zwar für ihre politische Einstellung und den Einsatz „gegen rechts“ gelobt. Aber bei ihnen ist es die Kunst selbst, die problematische Züge hat, weil sie linksradikale Gewalt verharmlost. Ein anderes Beispiel, historisch: der berühmte, von der Kirche geförderte Caravaggio (1571–1610). Er schlug jemanden tot.

Wie ist all dies zu deuten? Solange sich daran ein geschärftes gesellschaftliches Bewusstsein zeigt, ist es sicher positiv zu bewerten. Man schaut inzwischen genauer hin, verschließt nicht mehr die Augen vor dem Fehlverhalten von Künstlern und Prominenten. Niemand darf sich alles erlauben, nur weil er oder sie im jeweiligen Fachgebiet Großes geschaffen hat. Und: Es gibt offenbar bei vielen den Wunsch, genauer zu erfahren, womit man sich umgibt, was man konsumiert.

Doch es drängt sich der Verdacht auf, dass da noch mehr hineinspielt, dass es nicht einfach nur um eine größere kritische Kompetenz der Gesellschaft geht. Das engagierte Nachforschen und Anklagen kann bisweilen nämlich auch in Hysterie umschlagen, in ein gnadenloses, unbarmherziges Urteilen – ohne an dieser Stelle die tatsächlich schlimmen Sachverhalte in irgendeiner Weise kleinreden zu wollen.

Und noch ein Gedanke. Womöglich ist die Sehnsucht nach einer unbedenklichen Kunst ja gerade nicht der Ausdruck eines kritischen, erwachsenen Bewusstseins. Dazu würde nämlich gehören, die reale dunkle Vergangenheit, tatsächlich existierende dunkle Seiten auszuhalten, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Genau das wollen oder können viele heute nicht mehr. Man will das einfach nur weghaben, für immer „entsorgen“. Der Verleger Florian Illies beschreibt in dem genannten Artikel spitz die verbreitete „Sehnsucht unserer prüden, verängstigten Zeit nach einer besenreinen Kunstgeschichte, an der die kreative Avantgarde in Deutschland liebend gerne nahtlos anschließen möchte in ihren sterilen Büros voll silberner Apple-Computer auf weißen Eiermann-Schreibtischen“.

Schlechter Baum – gute Früchte?

Der Wunsch nach einer „besenreinen“ Kunst, die alles Problematische, Schwierige – theologisch gesprochen: Sündhafte – leugnet und tilgt? Das wäre ein gleichermaßen totalitäres wie infantiles Welt- und Menschenbild. So ist das Leben nun mal nicht. Und wenn es so „gemacht“ werden soll, wird es schrecklich. „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“, hat Jesus laut Matthäus-Evangelium gesagt. „Jeder gute Baum bringt gute Früchte hervor, ein schlechter Baum aber schlechte. Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte hervorbringen und ein schlechter Baum keine guten.“ (7,16.18.) Das trifft vielleicht auf die Wanderprediger der Zeit Jesu zu, auf echte oder falsche Propheten. Aber für Kunst gilt es nicht. Hier muss man sich damit auseinandersetzen, dass auch schlechte Menschen existenziell Gutes, Schönes und Wahres schaffen können.

Deshalb: Es mag zwar anstrengender sein, aber letztlich führt kein Weg daran vorbei, sich mit der Qualität von Kunstwerken direkt auseinanderzusetzen. Sicher muss man dann im einen oder anderen Fall auch zusätzliche Fragen zum Künstler beantworten, Widersprüche aushalten, sich erklären, Haltung beziehen. Im Fall von „belasteten“ Straßennamen hat man vielerorts einen guten Umgang gefunden, auch mit problematischen Denkmälern ist das bisweilen geschehen. Man benennt sie gerade nicht um, baut sie bewusst nicht ab, sondern lässt sie – mit beigefügten Erklärungen – stehen. Sie sind dann ein Zeichen dafür, dass man sich den Fehlern, ja der Schuld, den strukturellen wie persönlichen Sünden der eigenen Geschichte stellt.

Genau deshalb sind die Diskussionen um Emil Nolde, Michael Jackson, Kevin Spacey – und wie sie alle heißen – nicht nur ein Phänomen, das allein die Kunstwelt angeht. Sondern es betrifft allgemein den Blick auf das Leben, die Welt. Der christliche Glaube bietet in diesem Zusammenhang ein realistisches und gleichermaßen lebensförderliches Modell. In der Nachfolge Jesu wird Dunkles gerade nicht einfach zugedeckt oder unbarmherzig getilgt. Es wird wahrgenommen – aber auch erlöst.

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