Angeblich gibt es viele, denen allein die Tatsache, dass das Böse und das Leid in der Welt existieren, den Glauben an Gott raubte. Ich gebe zu, dass ich dieser Versuchung nicht ausgesetzt war. Ich habe es eher umgekehrt begriffen und erlebt: Nur weniges rief in mir so stark den Durst nach Sinn hervor wie die Absurditäten der Welt, und nur weniges so stark den Durst nach Gott wie die offenen Wunden der Schmerzen, die das Leben mit sich bringen kann.
Wenn die Welt vollkommen wäre, wäre sie selbst Gott, und es gäbe in ihr keine Frage nach Gott. Ein Gott, der sich narzisstisch in dem unbeschädigten Spiegel seiner vollkommenen, völlig harmonischen Welt ohne Widersprüche, Gegensätze und Rätsel anschauen würde, das wäre nicht mein Gott, nicht der Gott der Bibel, nicht der Gott meines Glaubens.
Tomas Halik in: „Berühre die Wunden“ (Herder, Freiburg 2017 [Neuausgabe])