Die Außenwirkung des Islam hat sich spätestens seit dem 11. September 2001 gewandelt. Viele Dinge, die vor diesem Datum über diese Religion gesagt und behauptet wurden, stimmen so heute nicht mehr. Eine immer größere Kluft stellt Tilman Nagel, einer der führenden Vertreter der deutschen Islamwissenschaft, fest zwischen der „Weltauffassung des Muslims und derjenigen des jeglichen überindividuellen Bezug zum Transzendenten leugnenden zeitgenössischen Europäers“.
Der renommierte Göttinger Professor für Arabistik und Islamwissenschaften, der bedeutende Standardwerke über Mohammed und die Geschichte des Islam vorgelegt hat, räumt bereits im ersten Kapitel, in dem es um Grundzüge des Islam geht, mit einer Reihe falscher Vorstellungen auf. Nagel nimmt hier in einem Resümee seiner wissenschaftlichen Tätigkeit in aufklärerischer Absicht betont kritisch Stellung. Zum Beispiel deutet er die Sure 2, Vers 256 – „Es gibt keinen Zwang in der Religion“ – als eine unmissverständliche Aufforderung an die „Ungläubigen“, sich zum Islam als der wahren Daseinsordnung zu bekehren. Auch mit der islamischen Vorstellung von Abraham als Vater aller Gläubigen und den drei „abrahamitischen Religionen“ als gemeinsamer Grundlage eines interreligiösen Dialogs bricht Nagel. Aus seiner Sicht geht der biblische Abraham in muslimischer Sicht in der Person des zweiten Abraham – Mohammed – völlig auf.
Die Frage der Gewalt
Der Autor widerspricht der oft zu hörenden Behauptung, dass der „Islamismus“ eine Fehlentwicklung des Islam sei. Mohammed selbst habe seinen Anhängern freigestellt, ob sie ihren Glauben, mit dem „Herzen, mit Worten oder mit Taten verteidigen“ wollen. Radikale Muslime tun dies mit Taten (Waffen); die anderen, die sich mit dem Herzen oder mit Worten anstrengen, hätten keine Argumente, den Ersteren Missbrauch des Islam vorzuwerfen. Deshalb wehre sich die schweigende Mehrheit der Muslime auch nicht gegen religiös motivierte Gewalt, weil sie aus ihrer Sicht gar kein Missbrauch sei.
Mit dem Salafismus setzt sich Nagel in einem eigenen Kapitel auseinander, insbesondere mit den Bekehrungsversuchen. Bereits der große persische Gelehrte Al-Ghazzali (1058–1111) hatte empfohlen, Neubekehrte nur mit islamischen Riten zu konfrontieren und die Adressaten auf keinen Fall allzu früh mit der Dogmatik und den Fundamenten der Scharia bekannt zu machen.
Ein Kapitel widmet sich dem Dschihad, dem „Heiligen Krieg“, und räumt auch hier mit Missverständnissen auf. „Dschihad“ definiert Nagel als „Islamisierung der Welt als Staatszweck“. Auf Gewaltfreiheit sei der Islam dabei nicht ausgerichtet (Sure 47,4).
Die Muslime sind heute Nutznießer der westlichen Religionsfreiheit, während in keinem islamischen Land echte Religionsfreiheit mit dem Recht auf Bekehrung weg vom Islam gilt. Auch die Rolle der Menschenrechte im Islam sieht Nagel ambivalent. „Nach dem Islam ist der Mensch kein Wesen, das mit bestimmten aus seinem Menschsein folgenden, unveräußerlichen Rechten und Anlagen ausgestattet ist.“ Der Mensch habe seinen Verstand und seine Rechte nur, um zur Einsicht zu gelangen, dass er sich Allah unterwerfen muss, was die Übersetzung des Wortes Islam bedeutet. Infolgedessen erkenne „der Islam auch keine Naturgesetze an, da Allahs Schöpfungshandeln per definitionem nicht an solche gebunden ist“. Fethullah Gülen, der als Gegenspieler des türkischen Staatspräsidenten Erdogan irrtümlich oft als Verfechter eines fortschrittlichen Islam dargestellt wird, hat dies so ausgedrückt: „Wissenschaft und wissenschaftliche Fakten sind wahr, solange sie mit Koran und Hadith übereinstimmen.“
Das Buch von Tilman Nagel ist zweifellos anstößig und wird viele zum Widerspruch reizen. Aber es ist die Analyse eines seriösen Gelehrten aufgrund einer Innenansicht des Islam in seinem Ursprung und in seiner Wirkungsgeschichte. Nagels Urteile sind jedenfalls in den Diskussionen mit zu bedenken und nicht einfach von der Hand zu weisen.
Immer mehr Menschen fragen sich, warum die islamische Welt auch technologisch den Anschluss an den Westen verpasst hat. Der deutsch-jüdische Historiker Dan Diner hatte in seinem Buch „Versiegelte Zeit“ 2006 in der „Allgegenwart des Sakralen“ den entscheidenden Faktor für die heutige Rückständigkeit des Islam gesehen. Diese behindere die Entwicklung eines autonomen politischen, rechtlichen und wissenschaftlichen Systems mit je eigenen Funktionsweisen. Diner belegt dies mit der Bedeutung der arabischen Schrift und Sprache im Islam und seinem in arabischer Sprache geoffenbarten Koran. Da es dem klassischen Arabisch wegen seiner sakralen Belastung an Gegenwärtigkeit mangele, fehle ihm das entscheidende Mittel, um die Zeit angemessen zu reflektieren.
Ebenso wie Dan Diner analysiert der Frankfurter Historiker Heinz Gottwald die Ursachen der Rückständigkeit der orientalischen Welt gegenüber dem Westen. Er führt sie allerdings nicht auf die arabische Sprache zurück wie Diner. Vielmehr spiele die Hidschra eine wichtige Rolle (darunter verstehen Muslime die Auswanderung Mohammeds von Mekka nach Jathrib, dem späteren Medina). Mohammed sah sich 622 dazu gezwungen, weil die führenden Schichten in Mekka seine neue Religion ablehnten. Erst in Medina konnte sich eine stabile Gemeinschaft von Muslimen entwickeln. Die Hidschra gliedert den Koran in eine mekkanische und medinensische Periode mit ihren jeweiligen Offenbarungserlebnissen. Nach der Hidschra wird auch heute die islamische Zeit berechnet. Mohammeds Hidschra war kein Gottesgebot wie der Exodus des Volkes Israel, sondern bereits eine strategische Entscheidung, denn Mohammed wollte neben einer Religion auch einen Staat gründen. Mit der Hidschra wurde aus dem Islam neben einer religiös-geistlichen auch eine politisch-weltliche Gemeinschaft.
In Heinz Gottwalds Buch ist von der Hidschra jedoch erst ganz am Ende die Rede. Dem Autor geht es um einen theologiegeschichtlichen Vergleich zwischen dem Islam und dem Christentum, um so die Gründe für die relative Rückständigkeit des islamisch geprägten Orients im Vergleich zum christlichen Abendland zu erforschen. Die Stagnation des Islam begann aus seiner Sicht nach dem Untergang des Kalifats von Bagdad (750–1258), das den abendländischen Staatsgebilden zumindest ebenbürtig war, wie die Kreuzzüge bewiesen. Die Stagnation, die seit dem 12. Jahrhundert im Bagdader Kalifat einsetzte, hat sich nach dem Untergang dieses Kalifats in der muslimischen Welt fortgesetzt, was den soziokulturellen Abstand zwischen Christentum und Islam vergrößerte. Am augenfälligsten zu erkennen sei das an den unterschiedlichen Rechtsentwicklungen. Während im abendländischen Christentum im Hochmittelalter fortschrittliche Veränderungen im Rechtswesen Antworten auf die gesellschaftlichen Erfordernisse suchten, hätten im Islam seit dem 11. Jahrhundert verschiedene Rechtsschulen um ihre Rückwärtsgewandtheit gewetteifert.
Die Frage der Natur
Das größte Hindernis für gesellschaftlichen Fortschritt des Islam ist nach Gottwald die Vorstellung einer ständig von Gott gesteuerten Schöpfung, die zu einer allumfassenden Lehre des Vorherbestimmtseins (Prädestination) führe. Diese Vorstellung verhinderte jahrhundertelang die Entwicklung der Naturwissenschaften und des technischen Wissens im Islam, worauf auch Tilman Nagel in seinem Buch hinweist. Ein göttlicher Schöpfungsauftrag an den Menschen ist dem Islam fremd, obwohl die Welt auch im Islam Schöpfungswerk Gottes ist. Neben der Prädestinationslehre sei das wörtliche Verständnis des Korantextes der Hauptgrund für die Rückständigkeit. „Erst das Wissen um die Historizität wichtiger islamischer Glaubenslehren könnte die soziokulturelle Rückständigkeit des Islams gegenüber modernen Gesellschaften beenden.“ Damit bekräftigt Gottwald die Kritik vieler Geisteswissenschaftler, dass ein historisch-kritisch gelesener Korantext Voraussetzung dafür wäre, dass die islamische Religion in der Moderne ankommt.
Beide Bücher liefern gründliches Rüstzeug für die unabdingbare Auseinandersetzung und den Dialog mit dem Islam, auch wenn das Lesen und Verstehen Zeit, Ausdauer und manches Vorwissen erfordern.