Die biblischen Bücher sind wie Opern, die mit einer Ouvertüre auf das Kommende einstimmen. In einer Ouvertüre klingen alle wichtigen Themen und Motive an, ehe sie in den einzelnen Akten entfaltet werden. In der Bibel wiederholt sich dieses Spiel 73 Mal.
In den 46 Schriften des Alten und den 27 Schriften des Neuen Testaments wird die Heilsgeschichte des jüdischen und christlichen Gottesvolkes in den Blick genommen. Jede von ihnen gehört einer bestimmten Gruppe innerhalb des biblischen Kanon an: den fünf Büchern Mose, den geschichtlichen Büchern, der Weisheitsliteratur, den Prophetenschriften, den Evangelien, der neutestamentlichen Briefliteratur. Und schließlich ist da noch die Offenbarung des Johannes, die als apokalyptische Schrift für sich allein steht.
Der „Ouvertüren“-Band folgt dieser Gliederung und macht dabei einen höchst inspirierenden Vorschlag: Man könne die gesamte Bibel als Tora lesen oder als Geschichte, als Weisheitsliteratur, als Prophetie. Man kann sie auch als Evangelium lesen oder als Brief, auch als Apokalypse. Jedem dieser Vorschläge folgt ein Essay, der aus seiner je eigenen Perspektive die gesamte Bibel in ein neues Licht stellt.
Nicht Bericht, sondern Erzählung
Die Bibel beginnt mit einer Stimme aus dem Nichts, die alles überschaut, sogar den Anfang von allem“, schreiben Georg Steins und Egbert Ballhorn zum Buch Genesis. Und wenn man sie „als Tora“ liest, so Matthias Millard, wird am Ende alles wieder „auf Anfang gestellt“. Das zyklische Lesen ist die jüdische Praxis in der synagogalen Leseordnung, man kann sie aber auch im Neuen Testament ausmachen. Das Markusevangelium hat zwar eine Ouvertüre, aber „kein ‚richtiges‘, sondern ein offenes Ende“, schreibt Sandra Huebenthal, denn „es geht im Leben derjenigen weiter, die sich seiner Botschaft glaubend anvertrauen“. So gesehen seien nicht nur die ersten fünfzehn Verse, sondern der ganze Text dieses Evangeliums eine Ouvertüre, die dazu einlädt, immer wieder zum Anfang zurückzukehren und genauer und tiefer hinzuhören.
Wenn man die Bibel „als Geschichte“ liest, muss man sich darüber im Klaren sein, dass die Bibel nicht berichtet, sondern Geschichten erzählt, so Thomas Nauerth, denn die Bibel „ist mehr Literatur als Nachricht“, und literarische Werke „beschreiben nicht Wirklichkeit; sie ermöglichen Verständigung über Erfahrungen mit Wirklichkeit“. Das mag ein hilfreicher Schlüssel zu den Erzählungen von der sogenannten Landnahme im Buch Josua sein, das erzählte Gewalt an die Stelle realer Gewalt stellt und damit gerade keine vorstaatlichen Eroberungskriege dokumentiert, sondern die Anfänge Israels als Wunder mitten in der Geschichte deutet.
Dieses Wunder beginnt oft mit der Geburt eines Menschen, der wiederum nur Vorläufer oder Wegbereiter ist. „Die Königserzählungen der Bibel beginnen also mit der Geburtsgeschichte des Propheten, der mit dem Schicksal von Saul und David aufs Engste verbunden ist: Samuel.“ Sie beginnen mit Frauen und mit der „Verbindung von Privatem und Politischem“ (Ilse Müllner). Das ist auch die Geschichte von Elisabeth, Maria und Hanna im Lukasevangelium, das die Heilszeit „im Akt der Zeugung“ anfangen lässt (Ulrike Mittmann).
Die Augen der Propheten
Die Wahrheit der Bibel gründet sich nicht auf beweisbare Historizität, sondern auf ihre radikale Theozentrik. „Die Furcht Gottes ist der Anfang der Weisheit.“ Dieser Satz steht gleich drei Mal im Buch der Sprichwörter. Biblische Weisheit bündelt sich im Blick auf den einen Gott. Damit hebt sie sich ab von philosophischer Weisheit und menschlicher Selbsterkenntnis, auch dort, wo sie sich intensiv mit ihrer hellenistischen Umwelt auseinandersetzt und sich sehr weit auf deren „säkulares“ Denken einlässt. Man kann die Bibel daher als Weisheitsliteratur lesen, ein Genre, das heute als „Lebenshilfe- und Ratgeberliteratur“ die Regale der Buchhandlungen füllt. Die biblische Weisheit endet nicht mit dem Buch Jesus Sirach, sondern leuchtet ebenso im Weisheitslehrer Jesus von Nazaret auf oder in Paulus, der menschliche Weisheit an der göttlichen Torheit zerschellen lässt.
Der prophetische Blick wiederum reicht von „dem von Gott gesetzten Anfang“ (Georg Steins) bis hin zu einem Ende, das mehr ist als die Verlängerung der Gegenwart, wenn man Gott zutraut: „Yes, you can“ (Andreas Michel). Propheten sehen mehr als andere, weil sie mit göttlichen Augen auf die Wirklichkeit schauen, und so kann man die Prophetie als eine Gesamtperspektive der Bibel sehen. Propheten können das Gegebene durchschauen, sie erkennen Zusammenhänge, nicht nur soziale und geopolitische, sondern auch heilsgeschichtliche.
An den heilsgeschichtlichen Anfang knüpft das Matthäusevangelium an, das von der Tradition an den Beginn des Neuen Testaments gesetzt wurde. Es beginnt mit dem Stammbaum Jesu, den es mit Abraham eröffnet. Wenn man die Bibel als Evangelium liest, ist man immer schon auf die jüdische Überlieferung verwiesen, ohne die sich das Auftreten und Geschick Jesu von Nazaret nicht begreifen ließe.
Allein durch die Tatsache, dass es vier kanonische Evangelien gibt, kommt zum Ausdruck, dass es verschiedene Perspektiven auf Jesus gibt, den das Neue Testament den „Christus“ nennt, weil nach christlicher Sicht die biblische Heilsgeschichte in ihm zu ihrem Ziel kommt. „Hier ist dem Christentum der Pluralismus sozusagen in die Wiege gelegt“ (Karl-Wilhelm Niebuhr).
Dass dieser Pluralismus im frühen Christentum Gegenstand von Auseinandersetzungen war und seine Grenzen hatte, wird in den paulinischen Briefen deutlich, in deren Hintergrund nicht selten „Falschlehrer“ stehen. Die Identität der Gemeinden stand auf dem Spiel. Die Briefe, die in der frühen Kirche hin und her gingen, dienten der Vergewisserung. Und sie zeugen von einer lebhaften Kommunikation. In diesem Sinn kann man die Bibel als Brief lesen, als „Medium der Kommunikation“ zwischen Menschen und „zwischen Gott und Mensch“ (Wilfried Eisele).
Die Ouvertüren sind ein Parforceritt durch die Bibel, und sie sind mehr als Ouvertüren. Sie geben fundierte theologische Einblicke in die Botschaft der jeweiligen Schrift, sie zeigen ihre innerbiblischen Vernetzungen auf und ihre Wirkungsgeschichte über die Buchdeckel der Bibel hinaus. Sie machen Lust, das „Original“ zur Hand zu nehmen. Und das sollte man auch tun, denn – so Stadler – „beim Öffnen der Bibel eröffnet sich etwas. Ein Weltraum“. Andrea Pichlmeier