Das Wort klingt süßlich, schwächlich, schwülstig. „Was ist mit der Zärtlichkeit geschehen, dass aus ihr eine so peinliche Angelegenheit werden konnte?“, fragt die Theologin Isabella Guanzini von der Universität Graz. Die Autorin geht das Thema eher philosophisch als theologisch an. Im ersten Teil beleuchtet sie die Lebensbedingungen des modernen Menschen, im zweiten Teil mögliche zärtliche Orte, die selbst in der Großstadt zur Verfügung stehen – sofern man seine Augen für sie öffnet. Überzeugend und klar, aber ohne moralische Wertung, skizziert Isabella Guanzini, wie schwer es die Zärtlichkeit heute hat: Sensibilität, Wärme, Menschlichkeit von Angesicht zu Angesicht. Und wie sehr das fehlt.
In den Städten zeigt sich am deutlichsten, wie sehr der moderne Mensch durch das Übermaß von Welt, durch die andauernde Überreizung, die Aktiv- und Leistungsgesellschaft verhärtet. Denn er schützt sich durch Abschottung, durch die Rationalisierung seiner Gefühle und Wahrnehmungen, durch Toleranz statt echter Nähe. Doch er zahlt einen hohen Preis: Nichtverbundenheit, Misstrauen, Einsamkeit, Mangel an positiver Leere, Ruhe, Zeit zur Verarbeitung. Junge Leute seien heute „energetisch fehlgeleitet: entweder außer Rand und Band oder zu lau“, beobachtet die Autorin.
Zärtlichkeit würde gegen diese Nervosität, die zermürbende Erschöpfung, die Sinnlosigkeit, die Depression und die Einsamkeit helfen. Sie gebe unserem Körper Kraft, „sich zu bilden, sich zu nähren, sich zu erkennen“. Zärtlichkeit sei sogar ein „kosmisches Savoir-vivre“. In diesem Sinne ist sie für die Theologin weit mehr als ein Wohlgefühl, sondern eine geistige Haltung, in der auf sanfte Weise die eigentlichen Möglichkeiten des menschlichen Lebens freigesetzt werden können. Dazu führt die Theologin überzeugende „Porträts der Zärtlichkeit“ an, vom antiken Helden Aeneas über Jesus von Nazaret und Papst Franziskus bis hin zu einfachen Dorffrauen auf Lampedusa, die gestrandeten Müttern beistehen – jenseits aller politischen Fragen. Isabella Guanzini bereichert ihre Thesen mit einer eigenen, für eine Wissenschaftlerin ungewöhnlich poetischen und sinnlichen Sprache, dazu auch mit vielen Beispielen aus der europäischen und der Weltliteratur, etwa von Thomas Mann, Wisława Szymborska, James Joyce, Don DeLillo.