Unruhiges Deutschland

Nicht zum ersten Mal stellt sich der Psychologe und Psychotherapeut Stephan Grünewald der Aufgabe, ein Psychogramm der Deutschen zu erstellen. Aufgewühlt erscheint ihm die Gesellschaft aufgrund von Verunsicherung: „Die Menschen spüren, dass sich das Land in einem gewaltigen Umbruch mit ungewissem Ausgang befindet.“

Belege dafür findet der Leiter des Rheingold-Instituts in tausenden mehrstündigen Tiefeninterviews, welche die Grundlage für sein Buch bilden. Zwar herrsche noch immer „das Grundgefühl, in einem Auenland zu leben“ vor. Doch werde es zunehmend schwerer, die Realität eines „Grauenlands“ auszublenden, das jenseits des privaten Glücks liege: „die finstere und bedrohliche Welt der Globalisierung, des Terrors, der Digitalisierung, des Islamismus und des Kriegs“. Die Menschen erlebten eine „Zeit des Erwachens“, „die durch einen ständigen Wechsel zwischen Dämmerzustand und Realitätszuwendung“ gekennzeichnet sei. Die Flüchtlingskrise 2015 habe die Möglichkeit geboten, „das Unfassbare, das schon lange unser Auenland bedroht, fassbar zu machen“. Sie allein sei aber nicht der einzige Grund für die erregte, aufgewühlte Gesellschaft. Die Unruhe zeige sich in ganz verschiedenen Zusammenhängen, unter anderem im Gefühl mangelnder Wertschätzung seitens der Politik, in einer Erosion des Zusammenhalts, im Verlust von Orientierung.

Der „digitale AppSolutismus“ verheiße dagegen „totale Allmacht und Kontrolle“. Allerdings blende das Gefühl einer digitalen Allmacht die zum menschlichen Dasein gehörende Begrenztheit mehr und mehr aus. Welche Folgen dies hat, erläutert Grünewald etwa an der „Rollendiffusion des Mannes“, an Müttern „zwischen Allmacht und Selbstaufgabe“ und an Jugendlichen, die den „Fluch des Paradieses“ spürten.

Man muss nicht jeder Schlussfolgerung und These zustimmen, etwa der, dass sich die gesellschaftliche Mitte auflöse. Auch manch andere pauschale Formulierung wie Auenland – Grauenland ist sicher dem populären Genre geschuldet. Aber das Buch bietet die Möglichkeit eines fruchtbaren Abgleichs eigener Beobachtungen und Erfahrungen mit dem Versuch einer auf statistischen Daten gründenden Einordnung großer gesellschaftlicher Linien. Erhellend und ermutigend sind in jedem Fall die Überlegungen zur „Zeit des Erwachens“, die Diagnose eines Kampfes zwischen Prinzipien, „die auf der einen Seite erwachsen, maßvoll, reflektiert, reversibel, realitätsbezogen und integrativ sind, und solchen, die auf der anderen Seite infantil, fundamentalistisch, direktiv, absolut und willkürlich sind“. Allen kulturpessimistischen Beobachtungen zum Trotz birgt laut Grünewald gerade der gegenwärtige Zeitpunkt „die Chance einer Selbstvergewisserung unserer liberalen Gesellschaft“.

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Grünewald, Stephan

Wie tickt Deutschland?Psychologie einer aufgewühlten Gesellschaft

Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 319 S., 20 €

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