Die EU - nach der WahlEuropa-Gefühle

Der Erfolg von Splitterparteien zeigt, dass die Wähler politisch noch immer sehr regional denken. Privat ist das Europa-Gefühl dagegen schon tief verankert. Ist das am Ende wichtiger als Wahlergebnisse?

Wenn die Sommer-Urlaubszeit beginnt, wird Europa wieder zu einem einig Volk von Reisenden. Nichts ist den Menschen auf dieser großen Wallfahrt in andere Nationen dann so vertraut wie das Fremde. Auf Zeit, in den schönsten Wochen des Jahres, fühlen sich die Menschen bei den anderen sehr wohl. Echte Fußballfans wiederum erfreuen sich bei den europäischen Wettbewerben an der Kunst ebenso der anderen. Nicht wenige wollen das Endspiel sehen, selbst wenn der eigene Club schon früh ausgeschieden ist. Das Söldnerwesen der Liga-Konzerne hat Universalität längst herbeigekauft. Ein Franzose wie Franck Ribéry wird beim Abschied von den „stammesbewussten“ Bayern mit Sprechchören und Tränen begeistert gefeiert. Beim Eurovisions-Gesangswettbewerb ist das Abendland samt Einsprengseln aus dem Morgenland eine einzige Familie. Studenten sammeln Wissen, Erfahrungen und Beziehungen im Ausland. Emotionen pur.

Nur im Politischen reichen die Europa-Gefühle nicht weit. Da wird nach nationalen Erwägungen abgestimmt. Bei den jüngsten Wahlen gingen zwar so viele Bürger an die Urnen wie lange nicht, trotzdem blieb jeder zweite Stimmberechtigte fern. Politik sorgt für Erregung allenfalls im Nahbereich. Der herbe Verlust der einst mächtigen sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien sowie das Abschmelzen der Volksparteien und der noch verbliebenen Namensträger des Christlichen bei gleichzeitiger Vermehrung der Splittergruppen belegt, dass die Bürger kaum makro-, vielmehr mikropolitisch denken. Selbst Nationalkonservative, Rechtspopulisten und Rechtsextreme sind untereinander zersplittert, obwohl sie zusammen im Europäischen Parlament etwa so viele Abgeordnete stellen wie die Volksparteien-Fraktion. Vieles läuft auf Klientelpolitik hinaus. Um Koalitionen zu sichern, werden immer häufiger Lobby-Spezialinteressen bedient. Die bunte Namensgebung von „Parteien“ offenbart, dass sie nicht mehr programmatische Sammelbecken für Universales sind, sondern, zu Bewegungen mutiert, auf populistische Stimmungen setzen, die Grünen mit ihrem Erfolg eingeschlossen.

Ist es aber so schlimm, wenn das Europa-Gefühl weniger in der Politik, eher im privaten Leben entsteht, nicht über das Management der Macht mit seinen Frustrationen, sondern durch das Alltagsgewöhnliche? Vielleicht sollte man gar nicht so hohe Erwartungen an eine europäische Identität durch Brüssel oder Straßburg richten. Das Regionale, Nationale wird der bedeutsamere Ort für Entwicklung und Fortschritt und Heimatgefühle bleiben. Es ist schon sehr viel und reicht, wenn wir uns in Europa gegenseitig Vertrauen geben und um Vertrauen bitten, bei allen Eigenheiten.

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