Im Osten der Region München hebt sich aus einer durchschnittlichen Vorstadtbebauung ein weiß glänzender Turm ab. Ein zweiter tritt daneben. Aus der Nähe werden die Türme zu Pyramiden, senkrecht abgeschnitten, aufragend aus einem Baukörper auf grauem Sockel. Der weiße Glanz geht von keramischen Kacheln aus, die, kreuzförmig gefaltet, das Licht nach vielen Richtungen spiegeln. Sie überziehen die Wände und die ganze plastisch gestaltete Dachlandschaft. Parallel zur Hauptstraße eines neuen Ortsteils von Poing im Landkreis Ebersberg steht die Wand des quadratischen Baus, die sich rechts in großer Höhe nach oben öffnet. Links gleitet der Blick über die glänzende Dachschräge. Ein goldenes Kreuz, vertikal und horizontal abzulesen, krönt sie. Darauf sitzt ein Hahn, nicht als Wetterhahn, als drehbare Scheibe, gebildet, sondern als Umriss eines krähenden Gockels, geschmiedet von Matthias Larasser-Bergmeister. Viele Kirchturmhähne wurden in den letzten Jahrzehnten abgebaut, weil sie nur noch als technisch überholte Windanzeiger verstanden wurden. Der Hahn von Poing dagegen begrüßt die aufgehende Sonne. So wie der Kirchenvater Ambrosius in seinem Hymnus „Aeterne rerum conditor“ (O ewger Schöpfer aller Welt) den Hahnenschrei als Weckruf, als Hoffnungszeichen, als Einladung zur Reue, als Ruf zum Licht der Sonne, des Glaubens und der Gnade besingt.
Das Gebäude steht frei, um ein paar Stufen erhöht, und lädt so zum Umschreiten ein. Ein Weg führt entlang zu einem kleinen See, einer Grünanlage und einer zweiten Kirche, die als „evangelisch-lutherische Christuskirche“ bezeichnet ist. An unserem Bau steht „SELIGER PATER RUPERT MAYER“. Beide Bezeichnungen sind nach klerobürokratischer Denkweise richtig. Allerdings: Alle Kirchen sind Christuskirchen! Wenn es mehrere an einem Ort gibt, muss man sie zur Unterscheidung aber verschieden benennen: St. Johann im Lateran etwa, St. Paul vor den Mauern, St. Peter im Vatikan, St. Michael in Poing … Und es ist ja schon gar nicht so, dass der signifikante katholische Bau dem Seligen-Pater-Rupert-Mayer-Kult gewidmet wäre, wie mancher aufgrund der Benennung annehmen könnte.
Im Inneren verschwindet diese Irritation dann aber gänzlich. Der Raum ist auf christliche Liturgie konzentriert. Der Altar, von Ulrich Rückriem aus Anröchter Stein gebohrt, gespalten und kreuzförmig gehöhlt, ist zum Teil bruchrau belassen, zum Teil als Trapez glatt geschnitten. Die Form kommt dem Besucher und der in drei Bankblöcken versammelten Gemeinde pfeilartig entgegen und ruht doch überzeugend schwer. Weniger überzeugend ist die Nachahmung bruchrauen Steins mit der Silbertür in der Tabernakelstele. Vor der Glaswand rechts mit dem Blick auf den See steht der Taufstein. Der Boden ist mit Nagelfluhplatten belegt, einem Sedimentgestein mit eingeschlossenen Kieseln, aus dem im Alpenvorland seit mehr als tausend Jahren Sockel gebaut werden. Es verkleidet auch innen und außen die senkrechten Wände, die dadurch zur Grundlage für ein Lichtzelt werden.
Die weiße Decke ist kreuzförmig gefaltet und strahlt im Licht aus zwei Milchglasfenstern in großer Höhe. Die nach außen in keramischem Glanz leuchtenden Türme holen das Himmelslicht in den Raum. Zwei Klarglaswände öffnen den Blick auf den See und auf den Vorplatz. Ein opakes Fenster hebt Tabernakel und Altarwand im Streiflicht hervor. Das Licht von oben und von unten kreuzt sich und verklärt damit den Raum. Wie bei der Nikolauskirche in Neuried vom selben Architekten (vgl. CIG Nr. 1/2009) erscheint das Licht als religiöse Botschaft dessen, der uns „aus der Finsternis berufen hat in sein erstaunliches Licht“ (1 Petr 2,10; die Einheitsübersetzung benützt an dieser Stelle das von der Werbung abgegriffene Wort „wunderbar“). Von den hohen Lichtöffnungen her senkt sich die Decke, begleitet von erstaunlichem Streiflicht, tief herab zu einem Punkt über dem rechten Bankblock. Im Weiß, das von strahlender Helle in Schatten herabgleitet, verschwinden die Konturen – obwohl die Dachflächen scharfkantig aneinanderstoßen, wie wenn sie aus weißem Papier gefaltet wären. Der architektonische Gestus, das Licht pathetisch aus der Höhe zu holen, erinnert an den Schlussvers des Benedictus im Morgengebet der Kirche: „Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes und unsere Schritte zu lenken auf den Weg des Friedens“ (Lk 1,78; im griechischen Urtext ist viel dramatischer von den Eingeweiden des Erbarmens Gottes und von den Füßen, die auf den Weg des Friedens gesetzt werden, die Rede).
Durch eine große Leinwand mit Farbtupfen von Jerry Zeniuk wird neben dem Haupteingang eine Lichtzone abgetrennt. Hier steht im Gegenlicht eine lebensgroße Marienfigur. Von Carola Heine aus einem Nussbaum geschnitzt, vermittelt sie das Bild einer eleganten, selbstbewussten Frau, die als Attribut ein Kind mit sich führt. Nicht die „Niedrigkeit seiner Magd“, wie bei den vielen Madonnen mit geneigtem Haupt, sondern berechtigter Stolz spricht aus dieser Figur: Denn „Er hat Großes an mir getan“. Demgegenüber wirkt das Mütterliche weniger deutlich als bei der Madonna derselben Künstlerin in Maria Eich bei München (vgl. CIG Nr. 49/2009), die sitzend mit einem vergoldeten Kind dargestellt ist. Aber Würde und Stolz Mariens, unübertrefflich gestaltet in der Marienkrönung von Diego Velázquez 1644, wiederzuentdecken, ist in Zeiten feministischer Theologie überfällig.
Der asymmetrisch aufgipfelnde Bau in Poing kann mit der Marienkirche am Wattenmeer vom Büro „Königs Architekten“ (CIG Nr. 5/2019) verglichen werden, betont aber im Gegensatz zu deren weichen Rundungen glatte Flächen mit geraden Kanten. In der Lichtführung und Ausstattung übertrifft er sie. In der Ausstellung „Zusammenspiel der Deutschen Gesellschaft für christliche Kunst“, die noch in Bad Windsheim, danach in Duisburg, Köln, Münster und Ludwigshafen gezeigt wird, wird die Kirche von Poing zu Recht unter der Überschrift „Signifikanz“ präsentiert. Der Bund Deutscher Architekten hat den Bau mit dem alle drei Jahre verliehenen Architekturpreis Große Nike ausgezeichnet.