Juan Ruiz sieht aus wie der Held aus einem Actionfilm. Sportlich und selbstbewusst, in dunkelrotem Polohemd mit großer Sonnenbrille im braun gebrannten Gesicht. Auch die Biografie des gebürtigen Mexikaners bietet so einiges, das sich gut auf der Leinwand machen würde: Der 38-Jährige hat den Grand Canyon durchwandert und Gebirge erklommen, hat bislang in fast dreißig Ländern gearbeitet. Er spricht Spanisch und Englisch, gutes Deutsch und ein wenig Italienisch. Außerdem hält er den Weltrekord im Mountainbiken auf Zeit. Genauer: im „Blind-Mountainbiken“. Denn der 38-Jährige kann nicht sehen – und das seit seiner Geburt. Als Vorbild und Coach beim Berliner Verein „anderes sehen“ trainiert Ruiz Kinder mit Sehbehinderungen in ganz Deutschland, sich in ihrer Umgebung sicher zu bewegen. „Wir dürfen Kindern nicht beibringen, abhängig zu sein“, erklärt er seine Kernbotschaft. „Sie müssen die Chance erhalten, zu entdecken, auszuprobieren und Herausforderungen anzunehmen.“
„Juan bringt Bewegung in die Menschen“, sagt Gabriele Feigl. Sie leitet in Nürnberg ein Bildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte. Sie hat Ruiz eingeladen, eine Woche lang Schulungen in ihrer Einrichtung anzubieten – und sie ist begeistert von ihm. „Juan animiert, auch mit Behinderung alle Sinne zu nutzen, um ein selbstständiges Leben zu führen – und vor allem ein glückliches.“
Blinde und sehbehinderte Kinder aus dem Förderzentrum sitzen gespannt auf ihren Plätzen, Jugendliche aus
den beruflichen Schulen sind gekommen, Eltern, Lehrer, Therapeuten. Der Referent wird mit tosendem Applaus empfangen. Er werde „eine Anleitung zum Glücklichsein“ vorstellen, verspricht Feigl.
Eine wichtige Botschaft vermittelt Ruiz den Zuhörern gleich zu Beginn: „Am besten nutzt ihr das Klicksonar, wenn ihr in der Welt unterwegs seid. Dazu müsst ihr euch aber erst einmal bewegen.“ Das sogenannte Klicksonar ist die Technik, für die Ruiz bekannt ist und die er für seinen Alltag perfektioniert hat. Mit seiner Zunge erzeugt er kurze Schnalzlaute. Aus dem Klang des Echos folgert er dann, ob der Weg frei ist oder welchen Hindernissen er ausweichen muss – beim Gehen und Wandern, oder eben beim Fahrradfahren. „Unbewusst nutzen wir alle die Geräusche unserer Umgebung, um uns ein Bild von der Umwelt zu machen“, erklärt Ruiz. Wenn er „wir“ sagt, dann meint er damit die Kinder und Jugendlichen, die heute vor die gleichen Probleme gestellt sind wie er als kleiner Junge. Er ist einer von ihnen, kennt sich aus.
„Die Schwerkraft gewinnt immer“, so nennt Ruiz eines der Probleme, die er schon hundertfach zu spüren bekommen hat. Ein Mädchen im Grundschulalter mit schwerer Sehbehinderung pflichtet ihm lauthals bei: „Ja, das kenne ich!“ Sie habe selbst schon viel zu oft das Gleichgewicht verloren und sich verletzt. Laut Ruiz kann ihr das Klicksonar helfen, Stolpern, Stöße und Stürze zu vermeiden. Allerdings nur als Ergänzung zu den anderen Techniken und Hilfsmitteln. Seinen Blindenstock hat Ruiz deshalb auch immer dabei. „Der Blindenstock ist ein Teil von mir, wie ein verlängerter Arm“, sagt er, „sogar im Grand Canyon hat er mich am Leben gehalten.“ Nur mit dem Blindenstock könne er sich fließend und natürlich bewegen.
„Die Welt ist systematisch aufgebaut“, erklärt er. Dieses System müssten blinde Menschen verstehen lernen und sich einprägen. Vorwissen erleichtere die Orientierung ungemein. „Fußgängerzonen sind symmetrisch. Türen oft in der Mitte einer Wand.“ Die Sehenden hätten es gerne einheitlich und schön. „Wir Blinde können und müssen das nutzen.“
Mit seiner Echo-Lokalisation kann Juan Ruiz zum Beispiel Türen von Fenstern unterscheiden und Wände von Vorhängen. Er kann hören, wie breit und wie hoch ein Hindernis ist und aus welchem Material es besteht. Die Technik nutzt er im Alltag, um in Fußgängerzonen das nächste Café zu finden oder beim U-Bahnfahren einen freien Sitzplatz. „Wenn ich einsteige, dann klicke ich erst in die eine, dann in die andere Richtung. Dann laufe ich dorthin, wo es leerer klingt.“ Um niemanden zu belästigen, nutze er schließlich vorsichtig den Blindenstock. Sicher ist sicher. „Sonst sitze ich plötzlich doch auf dem Schoß eines Fremden.“ Kein Aufsehen zu erregen, ist Ruiz besonders wichtig. „Wir sind blind. Deshalb sind alle Augen auf uns gerichtet“, beschreibt er die Schwierigkeit. „Dann sollten wir wenigstens gut aussehen“, erklärt er. „Ich will mich elegant bewegen, nicht unbeholfen und unsicher.“
Sehende hätten ihm nie viel zugetraut, erzählt er. Heute weiß er genau, was er kann: „Auch als Blinder kannst du alles schaffen. Solange du dir vorher die Fähigkeiten aneignest, die du dazu brauchst.“ Wer das Klicksonar nutze, laufe nie mit gesenktem Kopf, sei stets neugierig auf seine Umgebung. „Ich bringe mir mein Umfeld immer wieder neu bei“, sagt Ruiz. „Und wenn ich mich einmal verlaufen habe, dann fühle ich mich wie ein Entdecker auf Expeditionsreise.“