Das Lukasevangelium (1)Diener des Wortes

Erste Folge der Auslegung des Lukasevangeliums.

„Nachdem viele es bereits unternommen hatten, erneut eine Erzählung über die Ereignisse abzufassen, die sich unter uns zugetragen haben – so wie sie uns diejenigen überliefert haben, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes geworden waren –, habe auch ich mich entschlossen, nachdem ich allem von Anfang an genau nachgegangen bin, es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben, damit du die Zuverlässigkeit der Worte, über die du unterrichtet worden bist, klar erkennst“ (Lk 1,1–4).

Der Verfasser dieser Zeilen bleibt für uns anonym. Seine Erzählung wurde schon sehr früh dem Paulusgefährten Lukas zugeschrieben (Kol 4,14; 2 Tim 4,11; Phlm 24) und in Anlehnung an das Markusevangelium (1,1) als Evangelium bezeichnet. Beides ist der ältesten Textüberlieferung nicht zu entnehmen. Für den Autor selbst ist etwas anderes entscheidend: Er formuliert sein Selbstverständnis als antiker Historiker, der sich auf Überlieferung beruft und sich zugleich in ein kritisches Verhältnis dazu setzt. Da er selbst kein Augenzeuge der Ereignisse um Jesu Leben und Wirken ist, bleibt er auf Informationen aus erster Hand angewiesen. Diese gibt es aber nicht an sich, als nackte Tatsachen sozusagen, sondern nur im Gewand der Erinnerung derer, die dabei gewesen sind. Wird die Erinnerung weitergegeben, nimmt sie die Gestalt der Erzählung an. Schon die Erzählung der Augenzeugen ist jedoch kein objektiver Tatsachenbericht: Sie ist von subjektiven Wahrnehmungen gesteuert und offenbart die persönliche Einstellung des jeweiligen Erzählers. In der Überlieferungskette hinterlässt somit jeder Erzähler mehr oder weniger seine Spuren. Wer wissen will, welche Erinnerung verlässlich ist oder was das Erinnerte für ihn bedeutet, dem bleibt nichts anderes übrig, als all die Erzählungen durchzuarbeiten und sich ein eigenes Bild zu machen.

Das ist es, was den Verfasser des Lukasevangeliums antreibt, seine eigene Jesusgeschichte zu schreiben. Dabei sucht er nicht nur für sich selbst Gewissheit, sondern will vor allem Theophilus, dem er sein Buch widmet, von der Zuverlässigkeit der dargebotenen Jesusüberlieferung überzeugen. Hier geht es nicht um einen naiven Glauben, der unbesehen alles hinnimmt, was mit der Autorität der Tradition daherkommt. Vielmehr geht es um klare Erkenntnis, die das Althergebrachte kritisch würdigt, um dadurch einen eigenen Standpunkt zu gewinnen. Nur so bleibt die Überlieferung lebendig und verstaubt nicht im Museum. Nur deshalb kann Lukas auch wie selbstverständlich von den Ereignissen sprechen, „die sich unter uns zugetragen haben“.

Mag sein, dass er damit nicht mehr meint als „unter uns Juden“ oder „unter uns Menschen“. Vielleicht geht es ihm aber doch um mehr: Indem er seine Jesusgeschichte aufschreibt und indem sie von Theophilus und anderen gelesen wird, wird das Vergangene Gegenwart und ereignet sich erneut im Leben derer, die in den menschlichen Worten Gottes Wort vernehmen. Sie werden selbst zu Dienern des Wortes, zwar nicht wie die ersten Jünger von Anfang an, so dass sie den Ursprung bei Jesus von Nazaret verbürgen könnten, aber doch nicht minder für ihre Zeit, in der sie für die Zuverlässigkeit der Jesusüberlieferung einstehen. Christlicher Unterricht ist keine Indoktrination, sondern zielt auf begründete Einsicht, die Unterweisung braucht und Freiheit lässt. Nur so ist das Wort überzeugend.

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