Erst die geschichtlich gewachsene Überzeugung, dass allein Gott der Richter über das Leben jedes einzelnen Menschen ist, begünstigte die selbstkritische Gewissenserforschung und Einsicht, dass man anderen gegenüber nicht Gewalt anwenden soll, zumal in religiösen Dingen. Die Jesusgeschichte gab dieser Tendenz zur Verinnerlichung neuen Schub. Beispielhaft dafür ist die erstaunliche Wirkungsgeschichte des biblischen Gleichnisses vom Unkraut und Weizen (Mt 13,24–30): „Lasst alles wachsen bis zur Ernte.“
Doch im 13. Jahrhundert änderte sich das mit der dann bald selbstverständlichen Überzeugung, dass zumindest Ketzer vernichtet werden dürften. Diese Sicht vertraten Päpste wie Gregor IX. und Theologen wie Thomas von Aquin. Im Hintergrund dieses – so der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt – „unerhörten Umbruchs“ stehen die massiven Auseinandersetzungen um die gregorianische Kirchenreform, deren Bedeutung für die Kirchengestalt des zweiten Jahrtausends bis in die jüngste Gegenwart hinein noch aufgearbeitet werden müsste. Seit damals glaubte man, Kirche und Theologie könnten und dürften schon im Vorgriff auf Gottes Urteil bestimmen, wer Unkraut und wer Weizen sei – mit den schlimmen Folgen von Schikanierung, Unterdrückung und wirklicher Ketzer-Hinrichtung. Dem stimmten übrigens auch die Reformatoren Luther, Calvin und Zwingli zu.
Dennoch verschwand die altkirchliche Toleranz nicht aus Kirche und Theologie. Sie wurde historisch wirksam vor allem dank der „Linken“ in der Christentumsgeschichte, der „Dissidenten“ und „Spiritualisten“, der Orden, der Mystiker und Pietisten (die ihrerseits auf Aufklärung und Idealismus hinwirkten). Die Gewissens- und die Religionsfreiheit, ja überhaupt die Menschenrechte, setzten sich kirchlich eher „subversiv“ durch. In der Französischen Revolution war dahingehend nur der niedere Klerus aktiv. Die beiden westlichen Großkirchen dagegen taten sich schwer mit dem jesuanischen Gewaltverzicht und brauchten mit der endgültigen Anerkennung der Menschenrechte bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts.
Arnold Angenendt schildert in seinem Buch den christlichen Beitrag zur Toleranzidee und Gewaltbändigung erfreulich nüchtern und ohne Beschönigung. Er stellt zitierend eine schier unglaubliche Fülle von Fakten und Belegen zusammen. Er räumt so mit noch manch anderem Vorurteil auf und erinnert schonungslos an verhängnisvolle Weichenstellungen. Mit Martin Walser, Jürgen Habermas und anderen stellt er abschließend die Frage, wie es mit Toleranz und Mitmenschlichkeit weitergeht, wenn jene richterliche Instanz wegfiele, die alles großzügig wachsen lässt, aber auf eine endgültige Ernte und Richtigstellung keineswegs verzichtet.
Die anregende Studie nötigt zu kirchen- und gesellschaftskritischer Weiterarbeit. Es hilft nicht, immer nur abstrakt von „der“ Kirche zu reden. Ihre immens humanisierende Kraft muss ebenso dargestellt werden wie ihr Hinterherhinken, ihr Verrat an der eigenen Botschaft. Beides macht das große Lebenswerk des Münsteraner Kirchengeschichtlers aus. Was er in seinem Klassiker „Toleranz und Gewalt“ grundgelegt hat, wird hier im Detail vertieft.