Jesus, der Kyniker?

Auf den ersten Blick scheint Jesus viel mit der Gruppe der Kyniker gemein zu haben. Es gibt aber ganz wesentliche Unterschiede.

In der griechischen Antike waren die Kyniker berühmt und ebenso berüchtigt. „Geh mir nur ein wenig aus der Sonne!“, soll Diogenes von Sinope (um 403–323 v. Chr.) geantwortet haben, als ihn Alexander der Große aufforderte, einen Wunsch zu äußern. Das Wort steht seitdem stellvertretend für den Kynismus, der eine Philosophie und zugleich eine Lebensweise war. Nachdenklich-frech waren diese Lebenskünstler, radikal – und bedürfnislos. Diogenes soll sich mit einem Vorratsgefäß, einer „Tonne“, als Schlafstätte begnügt haben. Mehr Komfort brauchte er nicht.

Damit erstaunt es wenig, dass Jesus immer wieder mit den Kynikern in Verbindung gebracht wird. „Ich will dir folgen, wohin du auch gehst“, so die selbstsichere Ansage eines Aspiranten im Lukasevangelium. Die Reaktion des Wanderpredigers und Heilers aus Galiläa dürfte ihn ernüchtert haben: „Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“ (9,58). Ja, das klingt radikal und „kynisch“, wenngleich es nicht abweisend wirken muss. Wer mit Jesus mitziehen möchte, möge sich nur darüber im Klaren sein, so der Fingerzeig, dass das Verkünden des anbrechenden Reiches Gottes nicht viel gemein hat mit bürgerlichen Annehmlichkeiten oder Rabbiner-Privilegien.

Beispiele für solche „Kynismen“ lassen sich in den Evangelien zuhauf finden. Ein Mann möchte Jesus folgen, doch zuvor noch seinen Vater begraben. Das ist mehr als nachvollziehbar, das ist das, was man sich unter Pietät und Elternehrung vorstellt. Jesu schockierende Antwort: „Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh und verkünde das Reich Gottes!“ (Lk 9,60). Spätestens an dieser Stelle und auch angesichts des Fazits: „Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes“ (9,62) ist man geneigt, der Kynismus-These beizupflichten. Ein so angesehener Bibelwissenschaftler wie Bernhard Lang hat diese Ansicht in seinem Buch „Jesus, der Hund“ (2010) kreativ vertreten. Andere mahnen zur Vorsicht. Natürlich lasse sich Jesu Lebensweise mit der Philosophie manch anderer zeitgenössischer Gruppe vergleichen. Doch einer Gemeinschaft zuordnen lasse sich der Mann aus Nazareth letztlich nicht, und das gerade wegen des Leitmotivs seiner Verkündigung: der frohen Botschaft vom Reich Gottes, das sich hier und jetzt ereignet. Diesem Evangelium ordne Jesus alles unter, von hier aus werde beim genauen Hinsehen die eigene Farbe deutlich. „Jesus ist kein Philosoph, sondern ein Prophet“, so der Bochumer Neutestamentler Thomas Söding. Und: „Die Kyniker spotten ihrer Ketten, Jesus betet für seine Henker.“

Offenbar passt Jesus in kein geläufiges Schema. Gut so! Denn nur, wer seine Epoche – und jede Epoche – überstrahlt, kann Überdauerndes initiieren. Das betrifft auch die Gemeinschaft, die Jesu Botschaft durch ruhige wie wirre Zeitläufte zu tragen versucht. Niemand, der sich als Christ bekennt, darf sich in einer platten, bequemen Bürgerlichkeit einrichten. Eine gehörige Portion „Kynismus“, verstanden als Unterwegssein, als Sehnsucht nach dem „ganz Anderen“, als Gelassenheit, sollte die christliche Existenz prägen. Ist es ein Zufall, dass es häufig Mönche waren, Menschen also, die keinen gesteigerten Wert auf „Nester und Höhlen“ legen, die die christliche Glut durch spirituell dürre Zeiten getragen haben?

Und dann die andere Seite: Wer mit Jesus und an Jesus glaubt, kann kein „Zyniker“ sein, ein Mensch also, der sich angesichts der Härten und Absurditäten des Lebens in die Arme der Bitternis und Verzweiflung wirft. Mit Jesus dürfen wir klagen, beten und uns unsere Ratlosigkeiten eingestehen. Aber der christliche Sinn wagt trotz allem das Lebensexperiment, das von Glauben, Lieben und Hoffen geprägt ist. Jesus war kein Kyniker, doch zeigte er uns, dass die Welt nicht genug ist. Das verbindet ihn mit allen Menschen, die nach Heinrich Böll „nicht auf dieser Erde zu Hause waren“. Was das heißt, sollen wir nicht an Namen und Etiketten, vielmehr an den Früchten erkennen.

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