Vorsicht“, sagt Hans Leyendecker. „Wir haben alle einen Tunnelblick.“ Der Kirchentagspräsident ist eben auch Journalist und weiß von daher, wie schwierig die „objektive“ Wiedergabe eines komplexen Geschehens ist. Was nehme ich überhaupt wahr? Welche Eindrücke hebe ich hervor? Was filtere ich heraus – bewusst oder unbewusst? Wie beeinflusst meine innere Voreinstellung meine Sichtweise?
Das gilt erst recht bei einem Megaevent wie dem Kirchentag in Dortmund mit fast 2400 Veranstaltungen in einer halben Woche. Niemand hat da einen wirklichen Gesamtüberblick. Vermutlich gibt es so viele Einschätzungen, wie das Christentreffen überhaupt Besucher hat. „Jeder erlebt seinen eigenen Kirchentag“, so Leyendecker.
Trotz dieser offiziell geäußerten Zurückhaltung sind die Veranstalter naturgemäß zufrieden. Von einem gelungenen Glaubensfest sprechen sie. Und erfreulich „politisch“ sei dieser Kirchentag ebenso gewesen, ein Seismograf für das, was die Gesellschaft bewegt. Haben sie recht? Oder liegen doch eher diejenigen richtig, die vor allem Beliebigkeit bei den Themen sahen, Anbiederung an den herrschenden Zeitgeist gar? Denen die Podien zu einseitig besetzt, die U-Bahnen zu voll waren? Die auf sinkende Zahlen bei den verkauften Dauerkarten verweisen, auf das steigende Durchschnittsalter der Teilnehmenden – und darin Zeichen des Niedergangs sehen?
Manch einer, insbesondere Medienvertreter, war wiederum regelrecht fixiert auf den Programmpunkt „Vulven malen“. Dass Frauen in einem einzigen kleinen Workshop ihre Geschlechtsteile ins Bild brachten, um unbefangener mit ihrer Sexualität umzugehen, taugte auffallend oft zur – versuchten – Skandalisierung der gesamten Großveranstaltung. In etlichen Medienberichten habe man den Eindruck bekommen können, es sei ein „Vulven-Kirchentag“, meinte Hans Leyendecker nachdenklich. So manchem wäre tatsächlich weniger Schaum vor dem Mund zu wünschen. Kann man nicht gelassen, mit weitem Herzen, über manches hinwegsehen? So wie es der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, getan hat. Von einem Boulevard-Reporter auf den betreffenden Workshop angesprochen, meinte er trocken: „Ich glaube, das wendet sich nicht an mich.“
In anderem Kontext
Versuchen wir es also mit einer nüchternen, unaufgeregten Bilanz. Mehr als acht von zehn Befragten gaben bei einer Untersuchung im Vorfeld an, dass sie einen Kirchentag vor allem als Gemeinschaftserlebnis betrachten. Man wolle „Kirche in einem anderen Kontext erleben“, sagten mehr als drei Viertel der Besucher. Diese Erwartungen hat das Dortmunder Treffen eingelöst. Die Stadt war fünf Tage lang ins helle Grün der Kirchentags-Schals und -Transparente getaucht. Der Glaube war im öffentlichen Raum präsent: mit den Bühnen auf den Plätzen der Altstadt, auf denen große und kleine Gottesdienste gefeiert und Konzerte gegeben wurden. Und ja, selbst die überfüllten U- und S-Bahnen konnten als „Zeugnis“ durchgehen: Hier ist etwas Besonderes im Gange. Hier sind Menschen versammelt, die ein Stück weit anders und vor allem in besonderer Weise verbunden sind. Woran man das merkt? Zum Beispiel daran, dass sie nicht nörgeln und schimpfen, wenn die Bahn verspätet ist, sondern einfach ein Lied anstimmen. Vielleicht drückt sich ja auch auf diese Weise aus, was einen Christenmenschen erfüllt.
Gemischt fällt dagegen der Blick auf die inhaltliche Arbeit aus. Beherrschendes Thema der Diskussionen war der Klimaschutz. An zweiter Stelle ging es um die Seenotrettung im Mittelmeer, um Migration und ihre Folgen. Eine wichtige Veranstaltung kam erst kurzfristig zustande. Leoluca Orlando, der Bürgermeister von Palermo, hatte die Verantwortlichen gebeten, seinen Appell für einen humanen Umgang mit Bootsflüchtlingen vortragen zu können. Das ist auch ein Ausweis der gesellschaftlichen Bedeutung, die ein Kirchentag immer noch hat. Orlando wollte eben genau dorthin, um gehört zu werden. Sein Podium in der voll besetzten Westfalenhalle war sicher ein Höhepunkt des gesamten Treffens.
Weitere inhaltliche Schwerpunkte waren die Digitalisierung, speziell die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz, sowie die Spaltung der Gesellschaft, festgemacht an Themen wie Rechtspopulismus, Antisemitismus und sozialer Ungerechtigkeit. Jenseits davon faserte es aus: Da ging es um Europa, die Eine Welt, unter anderem mit dem Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege. Es ging um Familie, innere Sicherheit, um Breiten- und Spitzensport … Das wirkte manchmal etwas bemüht, zufällig.
Ob es das alles in dieser Fülle gebraucht hat? Oder wiederholt der Kirchentag da zu sehr das Geplappere, das man aus den allabendlichen Fernseh-Talkshows kennt? Wobei es dort meist kontroverser zugeht. Das mag zwar manchmal an der Inszenierung liegen, eine Zuspitzung um der Zuspitzung willen. Doch im Grunde ist es ja sinnvoll, wenn die vorhandenen gegensätzlichen Meinungen in der Gesellschaft aufeinandertreffen, wenn Streit ausgetragen wird. Nur so kann wirklich eine durchdachte Haltung entstehen.
Politische Wohlfühlblase?
Auf den Kirchentagspodien war man sich dagegen allzu oft zu schnell einig, und zwar im Sinne eines liberalen Mainstreams der Mitte oder gar links von ihr. Eine „grüne Einseitigkeit“ warf der FDP-Politiker Stefan Ruppert dem Kirchentag vor, „Spiegel Online“ schrieb von einer „rot-schwarz-grünen Wohlfühlblase“. Dem ist nicht völlig zu widersprechen, auch wenn es etwa ein bemerkenswertes Podium mit den Ministerpräsidenten Markus Söder und Winfried Kretschmann gab, bei dem versucht wurde, eine positive Lesart konservativer Überzeugungen zu finden. Insgesamt aber hat sich der Kirchentag mit seiner politischen Ausrichtung unnötigerweise angreifbar gemacht. Warum hatten etwa der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck und Juso-Chef Kevin Kühnert gefeierte Auftritte zu ihren politischen Lieblings-Themen Klimawandel beziehungsweise soziale Gerechtigkeit? Hätte man die beiden – die betonen, dass sie der Kirche und dem Glauben fernstehen – nicht zu existenziellen, religiösen Themen einladen können?
In dem Zusammenhang ist auch zu fragen, ob es richtig war, die Funktionäre der AfD von den Podien auszuschließen. Natürlich, die Partei ist seit 2017, als sie beim Kirchentag von Berlin und Wittenberg noch mitdiskutiert hat, in weiten Teilen deutlich extremer geworden. Ihr „Programm“ will man nicht hören. „Auf dem Kirchentag ist kein Platz für rechte Parolen, für die Diffamierung von Menschen und für menschenverachtende Hetze“, betonte Annette Kurschus, die Präses der gastgebenden westfälischen Kirche. Doch womöglich wurde das Thema erst durch den Ausschluss so groß. Die AfD stand bei Diskussionen – obwohl abwesend – häufig irgendwie mit im Raum. Auch das lag nicht zuletzt daran, dass die Journalisten die Verantwortlichen wieder und wieder danach fragten. Zudem gab die Verbannung den Rechtspopulisten Gelegenheit, sich als Opfer zu stilisieren. So unangenehm es in diesem Fall ist: Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der AfD, in deren Wählerschaft es – selbst wenn es nicht gefällt – Christen gibt, ist womöglich doch der bessere Weg.
Vielleicht sollte man aber auch das Konzept der Politiker-Podien grundsätzlich überdenken. Es scheint sich in der bisherigen Form überlebt zu haben. Das zeigte gerade auch der Auftritt von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Im gedruckten Programmheft war diese Veranstaltung noch ohne Titel angekündigt. Das mag organisatorische Gründe gehabt haben. Man könnte aber auch mutmaßen, dass es letztlich egal ist, worüber der Promi redet. Ist der Name allein schon die Nachricht? Die Tatsache, dass die Kanzlerin überhaupt zum Kirchentag kommt, ihre Visitenkarte abgibt, wie es oft heißt? Freut sich die Kirche da womöglich allzu sehr an einer gesellschaftlichen Bedeutung, die faktisch aber dramatisch am Schwinden ist (was auch das letztlich geringe Medienecho auf den Kirchentag zeigt)?
Vermisst: Ökumene
Vieles spricht jedenfalls dafür, sich bei den inhaltlichen Veranstaltungen stärker religiösen Fragen und Glaubensproblemen zuzuwenden. Die kamen in Dortmund zwar durchaus vor, etwa in den morgendlichen Bibelarbeiten. Wer da die richtigen Referenten gewählt hat, konnte Anspruchsvolles hören. Beispielhaft ist hier zu nennen, wie sich die evangelische Theologin Ellen Ueberschär und die katholische Politikwissenschaftlerin Tine Stein über die Begegnung Jesu mit der namenlosen Sünderin im Haus des Pharisäers austauschten. Darüber hinaus gab es einige klassische theologische Vorträge, etwa zur Bibelauslegung, zur Auferstehung, zur Feier des Gottesdienstes, zu Religionen und Gewalt… Man konnte sich auch einen Vormittag lang mit der Frage beschäftigen: Warum musste Jesus sterben? Auch ein Podium, das sich theologisch mit dem derzeit (wieder) politisch diskutierten Thema „Abtreibung“ auseinandersetzte, ist zu würdigen. Ebenso ging es um sexuelle Gewalt und spirituellen Missbrauch, wo es evangelischerseits durchaus Nachholbedarf bei der Aufarbeitung gibt, wie etwa der frühere Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider einräumte. Es ist dem Dortmunder Treffen also nicht vorzuwerfen, bei Kirchenthemen und der Durchdringung des Glaubens völlig „blank“ gewesen zu sein. Und man kann ohnehin fragen, ob es angesichts der sonstigen qualifizierten Angebote etwa kirchlicher Akademien und der Erwachsenenbildung im Allgemeinen so etwas in großem Stil auf Kirchentagen überhaupt braucht. Aber ja, denkbar und vielleicht wünschenswert wäre es schon. Etwa auch hinsichtlich der Solidarität mit den verfolgten Glaubensgeschwistern im Nahen Osten.
Definitiv vermisst hat man gerade als katholischer Besucher das Thema „Ökumene“. Nur ein einziges nennenswertes Podium gab es dazu, als Vorausblick auf den Ökumenischen Kirchentag 2021 in Frankfurt am Main. Ansonsten zeigten die Veranstalter wenig Interesse an den katholischen Geschwistern – was wiederum damit zusammenhängen mag, dass diese momentan stark mit sich selbst beschäftigt sind und die evangelische Kirche wiederholt brüskiert haben, zuletzt im sogenannten Kommunionstreit. In dieser Form sind Katholiken, das muss man wohl nüchtern festhalten, kein attraktiver Dialogpartner. Wenn man dann noch sieht, dass die katholische Kirche auf dem „Markt der Möglichkeiten“ nur von wenigen Institutionen vertreten wurde – und dass dazu ausgerechnet die betont traditionelle Gemeinschaft „Legio Mariae“ gehörte –, stellt sich ein ungutes Gefühl ein.
Selbstkritik, ja Demut verlangt auch ein dunkles Thema aus der eigenen Geschichte des Kirchentags, das in Dortmund aufkam. Mehrere Medien, zunächst die „Zeit“, hatten daran erinnert, dass der Kirchentag in der Vergangenheit den einstigen Stars der Reformpädagogik gern eine Bühne geboten hatte. Darunter war neben Hartmut von Hentig auch dessen Lebenspartner Gerold Becker, in den siebziger und achtziger Jahren Leiter der Odenwaldschule, und, wie sich vor wenigen Jahren herausstellte, ein Pädo-Krimineller. Über Jahrzehnte hat er angeblich mehreren hundert Kindern und Jugendlichen sexuelle Gewalt angetan. Damit konfrontiert, konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Thema die Verantwortlichen des Kirchentags gewissermaßen auf dem falschen Fuß erwischt hat. Allzu unbeholfen und hölzern wirkten die Erklärungen dazu. Hier ist noch einiges an Aufarbeitung zu leisten.
Doch bei aller Kritik im Einzelnen: Man muss dankbar sein für ein solches „Format“ wie den Kirchentag. Gerade in Zeiten, in denen die Gesellschaft, ja die Welt zusehends auseinanderdriftet, in denen es anscheinend fast nur schlechte Nachrichten gibt. In dieser Situation war der Kirchentag gemeinschaftsstiftend, ein positives Gegengewicht. Er kann – im Sinne der Umkehr – beim ein oder anderen einen Blickwechsel bewirken, Zuversicht wachsen lassen. Die Losung „Was für ein Vertrauen“ war überaus glücklich gewählt.
Vertrauen, Zutrauen
Deutlich wurde das Mutmachende gerade auch bei den Podien mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier einerseits und seinem Vorgänger Joachim Gauck andererseits. Beide traten nicht als Politiker auf, sondern im guten Sinne als Landesväter, man könnte auch sagen: als Seelsorger. Steinmeier rief dazu auf, den digitalen Wandel mutig mitzugestalten. „Unser Land war immer dann am stärksten, wenn wir die Zukunft nicht einfach erduldet haben, wenn wir Krisen nicht nur beklagt, sondern angepackt haben – Strukturwandel und industrielle Revolutionen, den scharfen Wind des globalen Wettbewerbs und natürlich die große Herausforderung der deutschen Wiedervereinigung“, erinnerte er. „Deshalb brauchen wir den Mut, das Spiel zu unterbrechen und die Spielregeln zu überprüfen. Was einmal gestaltet worden ist, kann auch neu gestaltet werden. Was programmiert wurde, kann neu programmiert werden. Also: Trauen wir uns, und ändern wir das Programm. Unser neues Programm kann ein gutes Programm sein.“
Und auch Gauck war ein Ermutiger. Wir sollten unseren Ängsten „den Abschied geben und ‚Ja‘ sagen zu unseren Möglichkeiten“, sagte er. Und als die Berliner Bildungsforscherin Ute Frevert das allzu düstere Bild einer turbokapitalistischen Zeit malte, wurde Gauck fast wütend. Sie solle doch bitteschön das große „Netzwerk des Guten“ nicht übersehen, das es in der Gesellschaft gebe. Da ist sie wieder, die Frage des Tunnelblicks…