Kirchenkrise - KirchenreformMit Zorn und mit Maß

Die Reformdebatte ist in der katholischen Kirche neu entbrannt. Geht es wirklich nur um Macht? Nur um ewige Wahrheiten? Gern wird verdrängt, dass das geistliche Amt am Ende auch wegen „unterlassener Hilfeleistung“ vor dem Richterstuhl Gottes stehen könnte.

Über dem Kirchenrecht steht noch ein anderes Recht: Gottesrecht. Und das Gericht Gottes. Darauf hatte der Freiburger Kanonist Ulrich Mosiek (1919–1978) in seinen Vorlesungen verschiedentlich hingewiesen. Der Geistliche – ob Gemeindepfarrer, Bischof, Kardinal oder Papst – habe sich vor jenem göttlichen Gericht zu verantworten für das, was er den ihm Anvertrauten in Gedanken, Worten und Werken getan oder nicht getan hat. Die Leitenden der Kirche müssten am Ende der Tage vor ihrer Gemeinde und stellvertretend für ihre Gläubigen vor Gottes Richterstuhl treten, um das ewige Urteil zu empfangen. Gemäß dieser Erstverantwortung und Grundverantwortung für das Heil der Seelen sprach Mosiek sich dafür aus, dies gottesdienstlich dadurch zu symbolisieren, dass der Priester als Erster vor seiner Gemeinde die eucharistischen Gaben empfängt – und nicht als Letzter, wie es mancherorts Gewohnheit geworden ist. Jener „Vorrang“ sei kein klerikales Privileg, kein Zeichen der Macht, sondern Hinweis auf den „Vorrang“ im Endgericht.

In vielen Weltgerichts-Szenen in der Kunst, etwa der berühmten von Stefan Lochner in Köln (um 1435), werden höchste Würdenträger, Bischof, Kardinal und Papst, in den Höllenschlund gerissen, während sich anderen die Pforte zum Himmel öffnet (vgl. erste Seite). Ähnliches ist in den Tympana über den Eingangshallen von Kathedralen dargestellt. Obwohl diese Bilder oder Reliefs gerade dem Klerus drastisch vor Augen gestellt wurden, sind sie inzwischen – leider auch vom Volk – in ihrer existentiellen Dramaturgie aus dem Bewusstsein verdrängt worden, allenfalls noch zur touristischen Bespaßung freigegeben. In einer weichgespülten Theologie gibt es das Jüngste Gericht nicht mehr. Alles ist durch die Barmherzigkeit Gottes unter den Mantel der Gleichgültigkeit gekehrt.

Möglicherweise liegt hier das Kernproblem des Klerikalismus, von den „Laien“ schulterzuckend hingenommen: Niemand traut Gott den Gotteszorn mehr zu, am allerwenigsten die Geistlichkeit. „Wir sind die Reinen.“ Dabei gilt weiterhin, was im Matthäusevangelium im Kontext der Ankunft des Menschensohnes und der Werke der Barmherzigkeit drastisch geschildert wird: „Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Und: „Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und sie werden weggehen zur ewigen Strafe, die Gerechten aber zum ewigen Leben.“

Wozu Priester?

Im weltlichen Strafrecht gibt es den Tatbestand der „unterlassenen Hilfeleistung“. Dasselbe betrifft die Nachfolge Jesu. An erster Stelle heißt es: „Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben.“ Was bedeutet das in einer Zeit, in der viele Menschen hungern nach dem ewigen, himmlischen Brot, dürsten nach dem ewigen, himmlischen Trank – was sie aber aus unterschiedlichen Gründen nicht erhalten. Vielleicht weil ihre Sehnsucht getrübt ist durch viele – verständliche und gut begründete – Glaubenszweifel, durch unsägliches Leiden an Seele und Leib, durch die Aussichtslosigkeit des definitiv eigenen Todes und des Todes von allem, einschließlich der „Mutter Erde“. Was ist der Sinn einer Existenz, in die man von den Eltern (und von Gott?) durch eine zufällige Zeugung hineingeworfen wurde, ohne gefragt worden zu sein? Mit der Gewissheit, geboren zu werden, um sterben zu müssen! Wer hilft, sich nicht im Absurden zu verlieren, sondern trotz alles Sinnwidrigen Sinn zu finden im Glauben, in der Hoffnung, in der Liebe? Was begründet Vertrauen in Gott und seine Erlösung?

Den Heil(ung)sauftrag erfüllen – dazu vor allem ist das priesterliche Amt da. Sinn und Geschmack fürs Unendliche wecken. Erfüllt das geistliche Amt in der Nachfolge der Apostel diesen Dienst aber wirklich noch? Wenn Bequemlichkeit, Routine, Trägheit, Einfallslosigkeit und als Entschuldigung dafür ein starrer Traditionalismus die Zeichen der Zeit nicht erkennen will – was dann? Längst sterben in manchen Weltregionen die katholischen Gemeinden rasant. Sie gehen zugrunde, weil der wahre Hunger nicht erkannt und nicht gestillt, der echte Durst nicht aufmerksam wahrgenommen und nicht gelöscht wird. Weil das Christusgeschenk Eucharistie mangels Priestern und aufgrund einer Illusion dogmatischer Reinheit und kirchlicher Korrektheit von den Leitungsverantwortlichen der Verwahrlosung preisgegeben wird.

Vielleicht sollte man doch wieder einmal an den vergessenen, ja verdrängten Zorn Gottes erinnern, der getreu der biblischen Botschaft vor allem und zuerst jene treffen wird, die in seinem Namen den Menschen das Reich Gottes aufschließen helfen sollen, es aber nicht oder nur unzureichend tun. Es gibt gewiss die Eigenverantwortung jedes einzelnen Menschen, sich zu mühen um das Ewige, aber noch größere Verantwortung tragen jene, denen die Sorge um das Heil der Seelen beruflich-professionell anvertraut ist.

Diese Trauer, dieser Schmerz

Mit dem Zorn Gottes verbindet sich zusehends ein Zorn der Gläubigen, die Tag für Tag erleben, wie offenen Auges die katholischen Gemeinden heruntergewirtschaftet werden, weil den Entscheidungsträgern nichts anderes einfällt, als nur noch größere anonymisierte Verwaltungs-Verbünde zu gründen. Dabei wächst der Glaube von innen und von unten, durch Nähe von Glaubenden zu Glaubenden. Dafür braucht es, wie schon die Würzburger Synode der westdeutschen Bistümer in den siebziger Jahren feststellte, ein starkes personales Angebot. Was ist zu tun, um ausreichend vorzusorgen, vor allem mit geistiger wie geistlicher Qualität? Wer hört den vielen alt gewordenen Priestern überhaupt noch zu, jener in die Jahre gekommenen Generation des konziliaren Aufbruchs, welche die Befreiung durch die Botschaft Christi mit Freude und Lust verkündet hatte, jetzt am Lebensabend jedoch bitter, manchmal verbittert, wahrnehmen muss, wie die großen Hoffnungen schwinden, wie der göttliche Schatz in den irdenen, zerbrechlichen Gefäßen mit diesen zerfällt? Spürt denn niemand sonst diesen Schmerz, diese große Trauer? Ebenso die Trauer und den Schmerz der vielen Ältergewordenen im Volk Gottes, die ohnmächtig zusehen müssen, wie ihre Kinder und Enkelkinder allmählich vom christlichen Glauben wegdriften, sofern sie nicht schon ganz weggedriftet sind? Und dass niemand mehr aktiv priesterlich auf sie zugeht, um mit ihnen zusammen um Gott zu ringen?

In der Freiburger Bistumszeitung „Konradsblatt“ erklärte ein Seelsorger des Weihejahrgangs 1959 neulich betrübt: Damals sei mit Begeisterung über die Kirche und mit Wertschätzung über den priesterlichen Dienst gesprochen worden. „Heute werden wir nur noch als Machtapparat dargestellt.“ Die „geistige Dimension“ der Kirche, die doch wesentlich ein „Gegengewicht zu den Mächten der Welt“ sein soll, werde gar nicht mehr gesehen. Es sei erschreckend: „Wir sehen fast keine jungen Familien mehr am Sonntag in den Gottesdiensten, kaum Jugendliche, auch keine Kommunionkinder!“ Das Bild des Konzils von der Kirche sei in der jungen Generation „nicht verankert“. Daher, so ein anderer Geistlicher, „müssen wir uns fragen, wie wir in dieser veränderten Gesellschaft den Glauben verkünden können“.

Schluss mit den Ausreden!

Ja, es braucht Reformen – dringendst! In die Resignation der Vielen mischt sich gerade unter den gläubig Engagierten, denen besonders viel am Glauben und an seiner Weitergabe, an der Liturgie als dem sakramental vorscheinenden Gastmahl des Reiches Gottes liegt, der Zorn über unendliche Vertröstungen und Ausreden. Diese laufen routiniert darauf hinaus zu beteuern, gewisse Regelungen könnten nur weltkirchlich geändert werden. Ja, wann denn endlich?! Die Kerndebatten sind geführt, die Fakten sind bekannt. Es gibt nichts Neues zu diskutieren. Man braucht dafür auch nicht nochmals einen „synodalen Weg“ oder Ähnliches, was sich ohnehin in langweiliger Wiederholung und Frustration erschöpft. Es braucht Entscheidungen – ganz klar vom Papst in Gemeinschaft mit dem Bischofskollegium. Dafür gibt es eine klare Institution: das Konzil. Punkt. So sieht es das katholische Prinzip in bewährter apostolischer Tradition vor. Oder muss auch das wegen Trägheit dem Zorn Gottes verfallen?

Die Tugend der Klugheit, des Maßes sollte jedoch trotz des Zorns und der berechtigten Ungeduld nicht über Bord geworfen werden. Nicht alles ist gleichzeitig zu erreichen. Es braucht eine Hierarchie des Notwendigen und Sinnvollen, eine Vorrangstellung der Maßnahmen. Gemäß dem sakramentalen Verständnis von Glaube und Kirche wäre es sinnvoll, sich zuerst auf Vorhaben zu verständigen, die in der theologischen Grundlage ohnehin einen Konsens zwischen den Flügeln haben. Niemand – auch der eiferndste Traditionalist nicht – behauptet ernsthaft, dass Priester laut göttlichem Recht unverheiratet sein müssen. Sie müssen es nicht – und sind es nicht, auch nicht in der katholischen Kirche. Der Zölibat ist pur menschliches Kirchenrecht. Seit jeher gab und gibt es verheiratete katholische Priester, sogar viele: solche, die von einer evangelischen Kirche oder der anglikanischen Kirche in die katholische Kirche übergetreten sind. Vor allem aber in den katholischen, mit Rom verbundenen beziehungsweise wiedervereinigten Ostkirchen (wie auch in den sakramentalen Schwesterkirchen der Orthodoxen oder Altorientalen).

Groß denken und handeln

Die Freiwilligkeit des Zölibats für Gemeindepriester könnte zumindest ein wenig entlastend wirken. Eine dahingehende Entscheidung – sie wäre nicht einmal eine mutige – könnte die erheblich vergiftete religiöse Atmosphäre, insbesondere wegen der unglaublich vielen schweren Klerikerverbrechen sexuellen Kindesmissbrauchs weltweit, zumindest ein wenig entgiften helfen, vielleicht den massiven Vertrauensverlust gegenüber dem kirchlichen Personal ein bisschen mildern. Das bedeutet freilich nicht, dass der Glaubenssinn der Menschen allein schon durch eine Änderung der Zölibatsregelung quasi automatisch geweckt würde, dass deshalb wieder mehr Menschen zu Gott und Christus, zur Hoffnung auf Auferstehung finden. Die Tatsache, dass die evangelischen Kirchen trotz vieler Reformen erheblich schlechter dastehen, ist nicht von der Hand zu weisen. Ebensowenig aber ist zu bestreiten, dass sich die Lage der katholischen Kirche und des Christentums insgesamt definitiv weiter verschlimmert, wenn man allem bloß zuschaut und das Mögliche, durchaus Hilfreiche, weiterhin versäumt. Die Gottesfrage und die Not der Vielen mit Gott und ohne Gott verlangt, groß zu denken und entschieden zu handeln. Ansonsten manövriert sich das Katholische bei immer weniger Präsenz eines geistlichen Amtes als katholische Freikirche in die Sackgasse, degeneriert es zu einer sektenartigen Nischenexistenz. Salz der Erde, Licht der Welt? Die wenigen traditionalistischen Grüppchen, die sich im wahren Christentum fühlen, sind es jedenfalls auch nicht.

Mit Maß ließe sich einiges ausprobieren, vielleicht tatsächlich zuerst am entlegenen Amazonas, wenn es auch keine Lösung ist, nur ältere verheiratete Männer mit dem geistlichen Amt zu beauftragen. Junge Menschen brauchen junge Priester! (vgl. Kommentar).

Möglicherweise wollte Papst Franziskus den Katholiken Deutschlands mit seinem jüngsten Brief ins Gewissen reden, den Bogen der Forderungen nicht zu überspannen, was umso mehr konservativ-traditionelle Widersacher auf den Plan rufen würde, die selbst kleinste Reformanstrengungen blockieren und in ihrem Totalitarismus alles zunichtemachen. Man muss auch kirchlich strategisch denken und vorgehen. Wenn es zuerst in einer überschaubaren Region – etwa Amazonien – dazu käme, Verheiratete als Priester einzusetzen, wäre das schon etwas, ein Türöffner. Ausreichend gewiss nicht.

Der Münsteraner Theologe Michael Seewald, der soeben ein Buch zur „Reform“ vorgelegt hat mit dem Untertitel: „Dieselbe Kirche anders denken“ (bei Herder) erklärte in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur, die Kirche unserer Zeit leide an einem „verengten Selbstverständnis“. Ob sie sich und ihrer Sendung treu bleibt, werde an einem „kleinkarierten Maßstab“ gemessen. Das sei nicht immer so gewesen. Jetzt aber lähmt es. „Jede Veränderung, die in den vergangenen Jahren diskutiert wurde – seien es nun Fragen des Kommunionempfangs, sei es die Ächtung der Todesstrafe durch Papst Franziskus oder seien es die Debatten um Geschlechterrollen in der Kirche –, immer ist es interessierten Gruppen gelungen, kleine Veränderungen als großen Bruch aufzubauschen. Oft genug hat sich das Lehramt dieser dogmatischen Panikmache angeschlossen.“

Die Autorität der Argumente

Den Behauptungen, dass etwas „schon immer so“ gewesen sei, dürfe man jedoch gern misstrauen. Denn die Lehre der Kirche habe sich im Lauf der Zeit „deutlich geändert und sich selbst auch korrigiert“. Man denke nur an die beharrliche Ablehnung der biologischen Evolution. Irgendwann wurde die dogmatische Lehre, dass das Menschengeschlecht aus einem einzigen Menschenpaar, Adam und Eva, biologisch hervorgegangen sei, stillschweigend aufgegeben. Es braucht „Argumente statt Autorität. Das klingt trivial, wäre aber – gemessen an dem Niveau, auf dem die katholische Kirche gerade diskutiert – ein gigantischer Fortschritt.“

Es geht keineswegs darum, nur irgendwelchen Zeitgefühlen, oft als „Zeitgeist“ gebrandmarkt, hinterherzuhecheln. Nochmals: Es geht um das Seelenheil der Menschen, wozu der wahre und gute Zeitgeist, der reale Fortschritt des Geistes in der Evolution von Sein und Zeit zu berücksichtigen ist. Dem Seelenheil ist alles unterzuordnen. Es geht darum, das Herz der Menschen und ihren Verstand voller Sehnsucht anzuregen, dass Gott wieder plausibel wird, dass die Hoffnung im Glauben an den Gottes- und Menschensohn Jesus Christus aufleuchtet und ein Ziel findet, ein ewiges Ziel in der Erwartung des Reiches Gottes und in der Arbeit am Reich Gottes. Mit Gottes sowie der Gläubigen Zorn und mit der Tugend der Klugheit, der Umsichtigkeit sowie des Maßes kann das gelingen.

Seewald schreibt in dem erwähnten Buch: „Es bleibt eine Binsenweisheit – nicht alles, was alt ist, ist schlecht, und nicht alles, was neu ist, ist gut. Manchmal verlangt das Evangelium, an etwas festzuhalten. Ob es das tut, muss aber offen diskutiert werden können. Die Kirche kommt daher um ein argumentatives Ringen, das den rechten Weg sucht und den Spielraum des Möglichen ausmisst, nicht herum. Dieses Ringen lässt sich nicht mehr in souveräner Auktorialität auf einige Wenige, etwa den Papst oder die Bischöfe, beschränken, sondern ist die Sache aller Christen. Das Gewicht eines Wortes bemisst sich dabei nicht am Weihegrad, sondern an der argumentativen Stärke seines Sprechers.“

Dabei sollte nicht vergessen werden, was das Evangelium vom Weltgericht als Gottes Zorn androht – nicht um zu verdammen, nicht um zu vernichten, sondern um in aller Dramatik offenzulegen, was es heißt und braucht, Barmherzigkeit zu üben. Wozu ist das Priesterliche, Heilende da? Zu nichts anderem als zur Inspiration von Freude und Hoffnung unter den Armen und Bedrängten aller Art. Für alle, die sich im Grunde ihres Herzens nach dem Ewigen sehnen, die gern glauben würden, wenn sie es nur könnten. Und für jene, die nicht fertig sind damit, Gott immerwährend neu zu suchen, auch wenn sie hin und wieder meinen, ihn gefunden zu haben.

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