Erkenntnisse über das „eigene Ich“ und die Beziehung des Menschen zu sich selbst kamen lange Zeit ausschließlich aus der Psychologie und ließen sich neurologisch kaum überprüfen. Erst vor kurzem gelang es Hirnforschern, die „Selbst-Netzwerke“ im Stirnhirn zu lokalisieren. Jetzt kann tatsächlich untersucht werden, wie das menschliche „Selbst“ entsteht, wie es heranreift, arbeitet, was ihm hilft, neue Verbindungen zu knüpfen, und was es verkümmern lässt. Interessanterweise decken sich die Forschungsergebnisse der Neurowissenschaftler dabei in weiten Teilen mit den Aussagen der Psychologie: Beziehungen zu anderen Menschen spielen eine entscheidende Rolle für die Entwicklung. „Wir verfügen über ein neuronales Resonanzsystem, das bereits bei Säuglingen in Funktion ist“, erklärte der Arzt und Hirnforscher Joachim Bauer kürzlich in der österreichischen Zeitung „Die Furche“. Tatsächlich lässt sich wissenschaftlich nachweisen, wie „Menschen durch Mitmenschen mit Gefühlen angesteckt und verändert werden“.
Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, Zeit für sich zu haben, in Ruhe über das eigene Leben zu reflektieren. „Dem eigenen Selbst begegnen zu können, bei sich sein zu können, könnte für den Menschen das größte Glück sein“, so Bauer. Viele empfinden das allerdings ganz anders. Die moderne Unterhaltungsindustrie mit ihren flackernden Bildschirmen lebt zu einem großen Teil davon, dass die Benutzer dauernd nach Ablenkung suchen, dass sie es nicht ertragen können, auch nur einen Moment mit ihren Gedanken allein zu sein. Auch der Hirnforscher bestätigt, dass die stillen Augenblicke, in denen man nur den eigenen Gedanken nachhängt, heute „für viele eine Qual“ sein können. So neu scheint dieses Phänomen allerdings nicht zu sein. Schon die Bibel beschreibt die Gefahren, die es bringen kann, mit sich selbst allein zu sein. Es ist wohl kein Zufall, dass Jesus nach seiner Taufe ausgerechnet in der Einsamkeit der Wüste zu sich findet – aber auch dem Teufel begegnet. Abseits vom Trubel der Stadt und verlassen von Freunden und Familie werden ihm alle Reichtümer der Welt gezeigt, um ihn in Versuchung zu führen.
Das klingt sehr nach den Gedanken, die auch moderne Menschen in den Wahnsinn treiben können, wenn sie ganz mit sich allein sind, dem Bedürfnis, sich mit anderen zu vergleichen, dem Gefühl, mehr vom Leben haben zu wollen. Bauer spricht von mentalen „Mosaiksteinchen, die negative Botschaften transportieren“ und sich zu Wort melden, sobald man allein ist. Papst Franziskus wird gelegentlich vorgehalten, zu viel vom Teufel zu sprechen. Solche mythischen Erklärmuster passten nicht in unsere wissenschaftliche Zeit. Dabei kann es auch heute nicht schaden zu lernen, wie man den Versuchungen des Teufels widersteht. Denn seine Stimme begleitet uns noch immer. Irgendwo in unserem Stirnhirn.