Inmitten der deutschen Trümmerlandschaft am Ende des Krieges erschien die katholische Kirche wie ein verlässlicher Leuchtturm, wie eine Siegerin gar. Für die meisten Angehörigen der „Erlebnisgeneration“, aber auch für die Alliierten stand außer Frage, dass sie zu den wenigen Institutionen gehörte, die sich der „Gleichschaltung“ zu entziehen wussten, die es wagten, der totalitären und rassistischen Ideologie ein alternatives Konzept vorzuhalten. Und auch wenn nicht jeder Bischof und nicht jeder Priester dem aktiven Widerstand zuzurechnen war, so konnte man gleichwohl auf unzählige Hirtenworte verweisen, die sich dezidiert gegen das „Neuheidentum“ und die „verhängnisvollen Irrlehren“ des Nationalsozialismus wandten. Predigte der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen im Kriegsjahr 1941 nicht höchst vernehmlich und mit Erfolg gegen das verbrecherische Euthanasie-Programm? Betete der Berliner Dompropst und Märtyrer Bernhard Lichtenberg nicht öffentlich jeden Sonntag für die Verfolgten, gleich welchen Glaubens sie waren? „Für die ersten Darstellungen aus der Sicht der Zeitzeugen waren Kirche und Widerstand fast Synonyme – der Heroismus christlicher Einzelner schien gegründet auf die Widerständigkeit der Kirche im Ganzen“, fasste der Politik- und Kulturwissenschaftler Hans Maier die damaligen Einschätzungen zusammen.
„Löwe“ und „Stellvertreter“
Nur ein gutes Jahrzehnt später, zu Beginn der sechziger Jahre, bekam dieses Bild Risse, ja, das Gerücht von der oppositionellen Gemeinschaft schien pulverisiert. Der aufblühenden zeitgeschichtlichen Forschung ebenso wie der öffentlichen Meinung in der Art des Nachrichtenmagazins „Spiegel“ erschien die katholische Kirche zunehmend als eine Institution, die sich – insbesondere durch den Abschluss des Reichskonkordats wenige Monate nach der „Machtergreifung“ – mit dem NS-Regime bestens arrangierte. Vielen Bischöfen, sogar dem „Löwen von Münster“, wurde vorgeworfen, sich keinesfalls mit ganzer Kraft gegen die deutsche Aggression und für die christlichen Pazifisten eingesetzt zu haben. Und da gab es noch das weltweit diskutierte Drama „Der Stellvertreter“ (1963), in dem Rolf Hochhuth dem in den Kriegsjahren amtierenden Papst Pius XII. ein frevelhaftes Schweigen angesichts der nationalsozialistischen Massenmorde vorwarf. In der wohlmeinenden Fassung lautete das Fazit nun: Wenn das Wort vom Widerstand überhaupt angewendet werden könne, dann treffe dies lediglich auf einige herausragende Persönlichkeiten zu, die nicht selten kirchliche Außenseiter waren. Die Kirche als Institution suchte in den Jahren 1933–1945 ihre eigenen Besitzstände zu wahren, das Umfeld der Seelsorge zu sichern, nicht aber die Freiheit und das Wohlergehen aller Verfolgten und Überfallenen zu verteidigen.
Mittlerweile sind gut siebzig Jahre seit dem Ende der NS-Herrschaft vergangen, und eine fast uferlose Literatur spiegelt Forschungen und Debatten des weiten Feldes „Katholische Kirche in der NS-Zeit“ wider. Dass es hierbei bis heute zu wellenartigen Ausschlägen kommt, dass insbesondere das Verhalten der Bischöfe kontrovers beurteilt wird, darauf weist Michael Hirschfeld, Historiker an der Universität Vechta und einer der Herausgeber des Bandes „Zwischen Seelsorge und Politik“ (Aschendorff, 817 S., 29,80 €) , hin. Umso wichtiger scheint ihm, dass nicht die Fraktionen der „Polemiker“ beziehungsweise der „Hagiographen“ die Diskussion prägen, vielmehr die Forscher, die nicht polarisieren und „ohne moralisierende Untertöne“ auskommen. Ein solcher konzilianter Ansatz muss keinesfalls zu biederen Sowohl-als-auch-Ergebnissen führen. Bereits auf den ersten Seiten geben Hirschfeld und die Mitherausgeberin Maria Anna Zumholz eine Überlegung des Kölner Erzbischofs Karl Joseph Schulte wieder, die als ein konstruktiver Maßstab dienen könnte.
Bertram oder Preysing?
Im Januar 1937 stellte Schulte in einer Denkschrift an den Vatikan fest, dass führende Repräsentanten des Regimes „grundsätzlich und definitiv die Vernichtung des Christentums und insbesondere der katholischen Religion“ anstrebten. Wer dies verhindern wolle, müsse sehr eindrückliche, auch öffentliche Formen des Widerstands entwickeln; Formen, die nur dann einen Erfolg versprechen, wenn „breite Schichten glaubensfreudiger und opferwilliger Katholiken einheitlich die Mitwirkung bei glaubensfeindlichen Maßnahmen ablehnen und die Rechte ihres katholischen Gewissens mutig reklamieren“ würden. Waren die Katholiken, waren die Bischöfe selbst dazu bereit?
34 Bischöfe gehörten im sogenannten „Altreich“, also in Deutschland in den Grenzen von 1937, der Fuldaer Bischofskonferenz („Plenarkonferenz“) an. Mochten sie häufig einer ähnlichen sozialen Schicht – der unteren Mittelschicht aus zumeist ländlich geprägten Räumen – entstammen, mochten sie alle nach einer soliden, nicht selten „römischen“ theologischen Ausbildung innerhalb der kirchlichen Hierarchie rasch aufgestiegen sein, so zeitigten diese Parallelen keineswegs eine homogene Denk- und Handlungsweise. Das führen die Autorinnen und Autoren des Bandes in gut zwanzig Bischofsporträts eindrucksvoll vor Augen. Hierbei erscheint die beliebte Zuordnung zu einer Bertram- beziehungsweise einer Preysing-Parteiung immer noch erhellend genug, um die jeweilige Haltung zu veranschaulichen. Der ersten gibt der Breslauer Fürstbischof und Kardinal Adolf Bertram (1859–1945) den Namen. Bereits 1973 legte der Jesuit und Historiker Ludwig Volk in einer wegweisenden Skizze dar, dass Bertrams historische Bedeutung weniger in der Kraft seiner Persönlichkeit gründet als in dem Faktum, dass er zwischen 1920 und 1945 die Bischofskonferenz leitete. Bertram kultivierte die „Eingabenpolitik“, die Taktik, mit penibel formulierten Schreiben konsequent gegen die Übergriffe der NS-Machthaber zu protestieren. Wie der Bertram-Forscher Sascha Hinkel in seinem prägnanten Porträt ausführt, fürchtete sich der aus Hildesheim stammende Bischof vor einem Zusammenbruch der Seelsorge, den er als junger Mann während des „Kulturkampfes“ Ende des 19. Jahrhunderts in Preußen erlebt hatte und später auch in den Abstimmungswirren nach dem Ersten Weltkrieg in Oberschlesien. Bertram vertrat zudem die Vorstellung einer „gottgewollten Harmonie“ zwischen kirchlicher und staatlicher Autorität. „Heilig ist uns die Untertanentreue deshalb, weil von Gott alle rechtmäßige Ordnung hienieden stammt“, formulierte er 1914 in seinem Antrittshirtenbrief in Breslau.
Man könnte diese sich gemeinhin auf das 13. Kapitel des Römerbriefs stützende Position als fern jeder Lebenswirklichkeit bezeichnen, doch wird erst von hier aus Bertrams Linie nachvollziehbar. Für ihn konnte es nicht darum gehen, die Machthaber in der Öffentlichkeit bloßzustellen oder sich für eine „Totalopposition“ zu entscheiden. Vielmehr musste eine „verantwortliche“ Zusammenarbeit gesucht werden, um – so eines der Leitworte Bertrams – „tunlichst das Erreichbare anzustreben“. Dieser Pragmatismus hatte freilich keine Chance. Angesichts einer entfesselten, immer hemmungsloser agierenden Diktatur blieben Bertrams meisterhaft formulierte Eingaben zumeist wirkungslos. Etliche Missgriffe, so seine mit den übrigen Mitgliedern der Bischofskonferenz nicht abgestimmten Geburtstagswünsche an Hitler, taten ein Übriges, um den Breslauer Bischof nicht erst nach dem Krieg ins „Kreuzfeuer der Kritik“ (so der Tübinger Historiker Joachim Köhler) geraten zu lassen. Und spätestens mit dem Erscheinen der päpstlichen Enzyklika „Mit brennender Sorge“ (März 1937) traten auch innerhalb des Episkopats Meinungsunterschiede bezüglich des Verhaltens gegenüber dem Regime zutage.
So stellte im Kontrast zu Bertram der Berliner Bischof Konrad Graf von Preysing (1880–1950) im Herbst 1937 mehrere Forderungen auf, die sich gegen weitere Verhandlungen mit dem Regime und für eine offensivere, die breite Öffentlichkeit suchende Strategie aussprachen. Doch war es der konfliktscheue Breslauer, nicht der Berliner Bischof, hinter dem sich die Mehrheit seiner Amtskollegen scharte. Bezeichnend war hierbei der Unwille oder die Unfähigkeit der Bischöfe, auf ein Rücktrittsgesuch ihres mittlerweile 83-jährigen Vorsitzenden im Jahre 1942 konstruktiv zu reagieren. Offensichtlich zogen die meisten Bischöfe die „bewährte“ Diplomatie des greisen Bertram einem in den Folgen schwer einschätzbaren Konfrontationskurs vor. „So blieb“, wie der Erfurter Kirchenhistoriker Josef Pilvousek in seinem Preysing-Bild resümiert, „eine Kursänderung im gesamten deutschen Episkopat aus“.
Auch innerhalb der Bertram- und Preysing-Fraktionen der Bischofskonferenz gab es eine bunte Phalanx von Meinungen und Charakteren, die die Lektüre der einzelnen Bischofsporträts aufschlussreich und spannend machen. Dafür sollen hier der Freiburger Oberhirte Conrad Gröber (1872–1948) und sein Kollege im Nachbarbistum Rottenburg, Joannes Baptista Sproll (1870–1949), einstehen.
Bischof „Conrad, der Plötzliche“
Für den Religionsphilosophen Bernhard Welte, der in den Jahren 1934 bis 1948 Gröber als Sekretär diente, war der Erzbischof „ein merkwürdiger Mann“. Merkwürdig wohl in allen Schattierungen des Wortes, und so ist es kein Zufall, dass kaum ein anderer Oberhirte so viele sich widersprechende Urteile – der „braune Conrad“ genauso wie „Widerstandskämpfer“ – zu provozieren vermochte. Einen nicht nur oberflächlichen Grund mag man dabei in Gröbers Kontaktstärke wie Redseligkeit suchen. „Wenn er Menschen sah, dann musste er reden“, so Welte. Diesem Aperçu stellt Christoph Schmider, Leiter des Erzbischöflichen Archivs in Freiburg, sogleich die Sätze zur Seite: „Eines allerdings war Gröber gewiss nicht: Diplomat. Dem stand allein schon seine Spontaneität entgegen – nicht umsonst hatte sich bereits früh sein Spitzname ‚Conrad, der Plötzliche‘ eingebürgert.“
Für Spontanes war freilich die Zeit nicht günstig. So fällt es schwer, in Gröbers Äußerungen zum Nationalsozialismus wie in seinen Handlungen eine konsequente Linie zu entdecken. Über das unter Umständen „notwendige“ Martyrium sprach Gröber bereits im Frühjahr 1933; in seiner Silvesterpredigt 1939 griff er Hitler heftig an, mochte er auch dessen Namen „auf der Kanzel“ nicht nennen. Zugleich war für ihn wie für die meisten seiner bischöflichen Kollegen die Verteidigung der christlichen Glaubenslehre entscheidend, die ungestörte Feier der Gottesdienste, die es – auch durch die Kooperation mit den Machthabern – abzusichern galt. Als Morgengabe schien es sich zu lohnen, den dunklen Seiten des Nationalsozialismus „mit einer gewissen Elastizität“ (so Gröber im März 1933 an den Vatikanischen Nuntius Eugenio Pacelli) zu begegnen.
Diese „Elastizität“ exerzierte Gröber besonders in den ersten Jahren des NS-Regimes. Mit „unbeirrbarer Mitarbeit“, zugleich auch „mit Würde und Ernst“, sei die neue Staatlichkeit zu bejahen, so äußerte er sich vor der Diözesansynode im April 1933. Dass diese Haltung das Regime stabilisierte, aber nicht besänftigte, erkannte der Oberhirte wenige Jahre später. Dann konnte er in sehr direkter Sprache das „Gottwidrige“ und „Blasphemische“ der nationalsozialistischen Machtausübung anprangern. Im Gegenzug wurde er von den örtlichen Parteifunktionären als „Schädling Dr. Gröber“ bezeichnet, der „beseitigt“ werden müsse. Wie Christoph Schmider ausführt, kommen die „Debatten um Gröber“, ob in der Wissenschaft oder in der Publizistik, an kein Ende. Zu widersprüchlich sind die Aussagen und Handlungen des Freiburger Erzbischofs, zu bedrängend sind sein – „traditioneller“ oder bereits antisemitisch gefärbter? – Antijudaismus und auch die Frage, ob er den verfolgten Priestern seiner Diözese, so dem 1944 hingerichteten Pazifisten Max Josef Metzger, mit der ganzen Autorität seines Amtes zur Seite stand.
Im Falle des Rottenburger Oberhirten fallen die Urteile ungleich klarer aus – und positiver. Joannes Baptista Sproll, der 1927 bis 1949 dem Bistum vorstand, wird gar ein spezifisches „Alleinstellungsmerkmal“ zuerkannt, wurde er doch im August 1938 von der Gestapo aus dem Bistum ausgewiesen und konnte erst nach dem Ende des Krieges dorthin zurückkehren. Der unmittelbare Anlass war ein vergleichsweise harmloser. Der Bischof war im April 1938 als Einziger seines Wahlbezirks nicht zur Abstimmung über den wenige Wochen zuvor erfolgten „Anschluss“ Österreichs erschienen, einer der in Diktaturen üblichen Legitimierungs-Farcen, bei der zugleich die „Liste des Führers“, deren Mitglieder fortan den Reichstag dominierten, abgenickt werden sollte.
Jesus war kein „Arier“
Wie Jürgen Schmiesing, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sproll-Projekt in Rottenburg, ausführt, war es vor allem der zweite Punkt, der den Bischof zu seiner Abwesenheit bewog. Denn auf der Liste befanden sich auch Parteiideologen wie Alfred Rosenberg, deren völkisch-rassistische Lehren der in einer kinderreichen, in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen lebenden Familie aufgewachsene Sproll als „neuheidnisch“ ablehnte. „Nationalgötter gibt es für den Christen und den denkenden Menschen nicht“, so äußerte er sich bei einer Männerwallfahrt im März 1935. Und im Blick auf die grotesken Versuche, Jesus als „Arier“ darzustellen: „Nun lese man doch das ganze Neue Testament und man wird finden, dass Jesus nur als Jude den Anspruch erheben konnte, der verheißene Messias zu sein. Jesus ein Arier – das ist die luftigste Hypothese, die je aufgestellt wurde.“ Vor dem Hintergrund solcher Predigten, die bis zu 25000 Zuhörer anziehen konnten, sind die wüsten Attacken auf den „Nichtwähler“ und „Volksverräter“ als eine längst „fällige“ Abrechnung zu lesen.
Mehrfach wurde das bischöfliche Palais gestürmt, lautstarke Kundgebungen forderten die Abberufung des Bischofs. Sproll wurde ausgewiesen, fand unter anderem Zuflucht im Benediktinerkloster St. Ottilien. Als er am 14.Juni 1945 „triumphal“ nach Rottenburg zurückkehrte, galt er als ein „Bekennerbischof“. Solchen großen Worten gegenüber sind wir mittlerweile skeptisch gestimmt. Zu groß ist das Wissen um den nationalsozialistischen Horror, zu beunruhigend die Fragen zur Stellung des deutschen Episkopats in diesen mörderischen Jahren. Doch könnte man mit Blick auf die oben zitierten Sätze von Erzbischof Schulte festhalten, dass der Rottenburger Oberhirte zu den Geistlichen gehörte, die sich der Mitwirkung bei „glaubensfeindlichen Maßnahmen“ aktiv entzogen, die die Rechte ihres „katholischen Gewissens mutig reklamierten“.
Es ist die Seelsorge, die cura animarum, die das Zentrum des bischöflichen Wirkens bildet. Das galt selbstverständlich auch im Jahr 1933, als in Deutschland eine „Bewegung“ an die Macht gelangte, die für die einen den langersehnten Aufbruch bedeutete und andere erschaudern ließ. „Wir sind in den Händen von Verbrechern und Narren“, so Konrad von Preysing. Mit dem Reichskonkordat nur wenige Monate später glaubten die deutschen Bischöfe – mit ihnen auch der Vatikan –, die Rechte der Kirche abgesichert zu haben. Doch sollten sie sich täuschen, denn das NS-Regime zeigte sich an einer Verständigung in keiner Weise interessiert. „Zwischen Seelsorge und Politik“ schildert kenntnisreich, farbig und ohne Interesse an Polemik, welche Handlungsspielräume die einzelnen Diözesanbischöfe hatten und in welchem Maße sie diese zu nutzen verstanden. Eine Reihe spezieller Perspektiven, so der Blick auf die vatikanische Bischofspolitik in der NS-Zeit oder die Abläufe der Fuldaer Bischofskonferenz, ergänzen sinnvoll einen Band, dessen Lektüre den Leser bereichert und zugleich nachdenklich macht.