Zuletzt waren aus Hongkong wiederholt erschreckende Bilder zu sehen: Wie Polizisten mit Tränengas, Gummigeschossen und Blendgranaten gegen Tausende von Demonstranten vorgingen; wie anscheinend von kommunistischen Kadern gedungene Schläger der Triaden-Mafia in weißen T-Shirts in einer U-Bahn-Station auf friedliche Protestierende in schwarzen T-Shirts einprügelten; wie radikalisierte Leute aus der Demokratiebewegung ihrerseits Polizisten angriffen. Seit Wochen ziehen insbesondere junge Leute – Studierende, Akademiker, Auszubildende, Schüler, aber auch Arbeiter, Bürokräfte, Banker – nahezu täglich vor Hongkongs Stadtparlament beziehungsweise vor das Verbindungsbüro der Kommunistischen Partei Chinas, um für Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit zu demonstrieren. Ihre schwarze Kleidung ist Ausdruck der Trauer über die befürchteten Verluste der Hongkonger Demokratietradition.
Begonnen haben die Proteste Anfang Juni, weil die Regierung der Sonderverwaltungszone Hongkong und ihre Chefin Carrie Lam ein Gesetz verabschieden lassen wollten, das die Auslieferung von Verbrechern an die Behörden der Volksrepublik vorsah. Die Demonstranten befürchten, dass das geltende eigene Recht Hongkongs auf diese Weise unterlaufen wird und Pekings Willkürjustiz Einzug hält. Auf diese Weise könnten chinesische Stellen Zugriff erhalten auf Oppositionelle. Inzwischen hat Carrie Lam das Gesetz „für tot“ erklärt. Dennoch halten die Proteste an.
Die Demonstranten knüpfen an die Massenbewegung von 2014 an, die unter dem Stichwort „Regenschirmprotest“ bekannt wurde. Die bunten Schirme, die auch jetzt überall zu sehen sind, sollen vor dem Tränengas der Polizei schützen. Sie sind aber zugleich Symbol für das, was Hongkong mit seinen 7,4 Millionen Einwohnern politisch von Festlandchina unterscheidet und bis jetzt vor ihm schützt: eine lange Tradition demokratischer Rechte, die daher rührt, dass Hongkong bis 1997 156 Jahre lang britische Kronkolonie war. Die Gewalt der Polizei erinnert außerdem viele Hongkonger an die brutale Niederschlagung der studentischen Demokratiebewegung auf dem Pekinger „Platz des himmlischen Friedens“ vor genau dreißig Jahren. Hongkong ist der einzige Ort in China, der jedes Jahr der Toten dieses Konflikts öffentlich gedenkt.
Der andere Geruch Hongkongs
Als Großbritannien am 1. Juli 1997 seine Kolonie an China zurückgab, handelten beide Länder einen Status aus, der die Metropole zur Sonderwirtschaftszone mit eigenen Rechten ausstattete. Unter dem Schlagwort „Ein Land, zwei Systeme“ sollen von Peking fünfzig Jahre lang die Hongkonger Demokratierechte gewährleistet werden. Das macht den „duftenden Hafen“, wie das kantonesische Wort Hênggong übersetzt wird, aus Sicht Pekings zu einem erheblichen Problem. Um Hongkong bereits jetzt wieder „chinesischer“ zu gestalten, haben die Machthaber den Prozess einer sogenannten Mainlandization eingeleitet, also eine politische „Übernahme“ durch das kommunistisch geprägte Festland.
Das geschieht freilich nicht etwa durch einen offenen Akt militärischer Besetzung des Stadtgebiets. Es handelt sich vielmehr um viele kleine Schritte der Kommunistischen Partei Chinas, die den Einfluss Pekings zementieren sollen. Das beobachtet auch der Zürcher Journalist Jörg Scheller in der Zeitschrift „Merkur“ (2/2019). Chinesische Investoren beispielsweise gingen sehr geschickt vor. So habe sich das Regime langsam auf die Hongkong-Insel „vorgeschoben“. Nun schnappe es bald zu wie ein Krokodil. Chinesische Investoren hätten „zuerst Medien aufgekauft und Politiker durch Gefälligkeiten gefügig gemacht“. Parteikader schickten ihre Kinder gezielt zum Studium nach Hongkong. Nach einigen Jahren Aufenthalt erhielten diese das Bleiberecht. Dann werde die Familie nachgeholt. Deshalb, und nicht weil Hongkong als Wirtschaftsstandort attraktiver sei als früher, wachse die Bevölkerungszahl. Ein von Scheller zitierter einheimischer Geschäftsmann gebraucht das Bild einer Kette, die immer mehr Glieder bekommt und schließlich um das gefühlte „Eigene“ der Hongkonger Demokratie gelegt wird, bis Gegenwehr kaum mehr möglich ist. Das dem Chinasystem Zuwiderlaufende – die Demokratie – wird sozusagen erstickt.
Ein anderer Unternehmer erklärte, dass zwar die Hongkonger Sonderrechte bis 2047 gelten würden. Doch sei jetzt schon zu erkennen, dass Peking den „duftenden Hafen“ in die direkte Nachbarprovinz eingliedern wolle, damit die Stadt letztendlich den Geruch des Reichs der Mitte annehme.
Vor diesem Hintergrund sind die aktuellen Demonstrationen mit zum Teil einer Million Teilnehmern Ausdruck einer großen Sorge jener Bevölkerung, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geschätzt und geschützt wissen möchte. Ging es zu Beginn der jüngsten Protestwelle noch darum, das Auslieferungsgesetz zu verhindern, so hat sich inzwischen der Protest zu einem beharrlichen Instrument der Demokratiebewegung entwickelt. Mehr noch: Wie Michelle Wong, die seit 2014 der Regenschirmbewegung für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit angehört, darlegt, ist die Furcht vor dem Beschneiden der Demokratie beziehungsweise der damit verbundene Protestsinn ins Alltagsbewusstsein übergegangen. Die Bewegung habe „die Weise verändert, wie Hongkonger die Welt sehen, und sie hat dazu geführt, dass mehr junge Leute in politische Ämter gewählt werden“.
Wer schürt die Proteste?
Der im Baskenland lehrende Philosoph Michael Marder hat das gewaltfreie Vorgehen der Regenschirmdemonstranten mit dem Leben von Pflanzen verglichen: „Im westlichen Denken stehen Pflanzen für Gewaltlosigkeit. Sie sind lebende Sinnbilder des Friedens, Wesen, die keinen Widerstand leisten, vollständig eingefügt in den Ort, an dem sie wachsen, und das bis zu dem Punkt, wo sie eins werden mit ihrer Umgebung.“ Allerdings ist es um diese „Pflanzenwiderständigkeit“ (plant resistance) schlecht bestellt. Peking drohte bereits damit, die Rote Armee des Festlands zu beauftragen, wieder „Ordnung“ zu schaffen. Das „Angebot“ hat die pekingtreue Stadtregierung von Hongkong bis jetzt abgelehnt. Bis jetzt … Auf absurde Weise setzte der Sprecher des China-Verbindungsbüros, Yang Guang, noch ein Argument drauf. Er forderte Hongkongs Regierung auf, die Demonstranten zu bestrafen, und brandmarkte die Proteste als „Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit“. Ein Kommunist, der den Rechtsstaat verteidigt? Die „Frankfurter Allgemeine“ kritisierte, dass der Sprecher mit keinem Wort auf die Forderungen der Demonstranten einging. Wie sehr die Propagandamaschine aus Peking läuft, zeigt auch die Tatsache, dass die Regierung Washington vorwirft, die Proteste bewusst geschürt zu haben.
Der Journalist Jeff Buddle schreibt in der Zeitung „South China Morning Post“: „Hongkongs lange Zeit geltender Ruf für Rechtsstaatlichkeit und Ordnung ist schwer erschüttert. Dass die Stadt eine der sichersten Metropolen der Welt ist, ging wenigstens zeitweise verloren. Toleranz wird immer weniger geübt, da die Spaltungen in der Gesellschaft vertieft werden.“ Es sind nicht zuletzt die großen Einkommensunterschiede, die es den jungen Leuten schwermachen. Hinzu kommen Wohnungsnot und der auch in Hongkong verbreitete Glaube an die Macht des Geldes.
Glaubt man dem langjährigen Demokratieaktivisten Joshua Wong, der aufgrund seines Einsatzes mehrfach inhaftiert war und nach eigenen Angaben auch gefoltert wurde, geht es den meisten Protestierern vor allem um „freie Wahlen, Herrschaft des Gesetzes und Dialog“.
Auch der 23-Jährige, der 2014 eine der Galionsfiguren der Regenschirmproteste war, spricht vom raffinierten Vorgehen Chinas gegen die Demokratiebestrebungen. „Die Zensur in Hongkong ist nicht offen. Vielmehr besteht die Taktik Chinas darin, demokratische und liberale Medien aufzukaufen und sie auf Loyalität gegenüber Peking einzuschwören. Das kann beispielsweise bedeuten, dass über bestimmte kontroverse Themen seltener oder gar nicht mehr berichtet wird.“
Protesthymne „Halleluja“
Mit Joshua Wong muss noch eine Besonderheit Hongkongs erwähnt werden. Seine Eltern sind Christen. Er besuchte eine methodistische Privatschule. Insgesamt spielen Christen in der Demokratiebewegung (Foto erste Seite) eine weit über ihren Bevölkerungsanteil hinaus reichende bedeutende Rolle. Die Korrespondentin der australischen Zeitung „The Sydney Morning Herald“, Kirsty Needham, hat auf diese in europäischen Medien weitgehend unterschlagene Tatsache hingewiesen. Es sei kein Zufall, dass die Demonstranten im Juni ein Kirchenlied zu ihrer Hymne erklärt haben. „Sing halleluja to the Lord“ (Sing einen Lobpreis für den Herrn) war bei den friedlichen Straßenprotesten täglich zu hören. Das angestimmte Kirchenlied hatte freilich auch eine Art Schutzfunktion. Religiöse Versammlungen zählen gemäß dem städtischen Recht nicht als genehmigungspflichtige Demonstrationen.
Für Jean-Pierre Cabestan, Professor an der Hongkonger Universität der Baptisten, ist die Metropole „eine religiöse Stadt“, eine Stadt mit Gott. Sehr viele führende Schulen seien katholisch. „Viele Chinesen flohen zudem vor dem Kommunismus vom Festland nach Hongkong, weil sie getaufte Christen waren“ und ihren Glauben unbehelligt leben wollten.
Der reformierte Pfarrer Tobias Brandner vom Evangelischen Missionswerk Basel „Mission 21“, der in Hongkong lebt, erklärt die Nähe von Christen zur Demokratiebewegung so: Einerseits seien Getaufte in China kritischer gegenüber totalitären Tendenzen und distanzierten sich leichter gegen die autoritären Entwicklungen und die Ballung der Macht, wie sie von Staatspräsident Xi Jinping eingeleitet worden ist. Andererseits hätten Christen gesehen, wie sich der kommunistische Machtanspruch „gegen die chinesischen Christinnen und Christen gewendet hat. Stichworte sind die Überwachungskameras in Kirchen, die Zerstörung von Hauskirchen und die Demontage von Kreuzen auf Gotteshäusern.“
Die Katholikin Lam
Hinzu kommt, dass die Gemeinden auf dem Festland weiterhin wachsen, quer durch alle Konfessionen. Es sind Gebildete, Studierte, Mittelständler, die zum Christentum finden als willkommene geistige Alternative zum staatlich verordneten Materialismus. Viele verstehen sich als Kulturchristen. Sie schätzen vor allem den im Christentum verankerten Individualismus, die Hochachtung der Person und ihrer Freiheit – im Gegensatz zur kommunistisch beerbten Mentalität der Unterordnung und Fügung im Konfuzianismus. Vom Christentum geprägt ist auch die Vorsitzende der Hongkonger Regierung, Carrie Lam. Sie lehnte es ab, Mitglied der Kommunistischen Partei zu werden, weil sie ansonsten ihrem Glauben hätte abschwören müssen, wie Kirsty Needham schreibt. Nach den ersten Demonstrationen hatte Lam noch den Rat von Bischöfen gesucht. Diese hatten ihr geraten, das umstrittene Auslieferungsgesetz umgehend zurückzuziehen.
Kenneth Chan, früherer Abgeordneter im Stadtparlament und Katholik, der Carrie Lam gut kennt, sieht die Zukunft der beim Volk unbeliebten Lam allerdings skeptisch. „Die Leute ärgern sich über ihre Arroganz, und sie will gar nicht zuhören. Sie sollte den ehrenhaften Schritt tun und ihr Amt zur Verfügung stellen, bevor es nicht mehr geht.“ Jean-Pierre Cabestan wiederum weist darauf hin, dass Lam sich inzwischen auch von den Christen innerlich entfernt habe. Lams Rolle als Chefin der Stadtregierung sei ohnehin eine unlösbare Aufgabe, gibt er verständnisvoll zu erkennen: „zum einen Peking folgen und gleichzeitig dem Volk von Hongkong verpflichtet sein“. Sie sei mittlerweile politisch eine „beschädigte Existenz“.
Wie sehr die Demokratie Hongkongs bereits geschwächt ist, lässt sich zuverlässig nicht feststellen. Die Demonstranten jedenfalls halten ihren Anspruch auf Menschenwürde, Menschenrechte und Demokratie aufrecht – gegen alle Widrigkeiten. Über ihre Erfolgsaussichten ist damit allerdings nichts gesagt.