Vierzig Jahre "Cap Anamur"Überlebenskampf im Chinesischen Meer

Immer wieder müssen sich derzeit Kapitäne rechtfertigen, wenn sie im Mittelmeer Flüchtlinge an Bord nehmen, statt sie ihrem Schicksal zu überlassen. Doch schon vor vierzig Jahren war Seenotrettung nicht „einfach“, sondern sorgte für Schlagzeilen.

Auf viel zu kleinen und völlig überfüllten Booten machen sich Menschen auf den Weg – damals wie heute. Vor vierzig Jahren rettete die „Cap Anamur“.
Auf viel zu kleinen und völlig überfüllten Booten machen sich Menschen auf den Weg – damals wie heute. Vor vierzig Jahren rettete die „Cap Anamur“.© Foto: picture alliance

Humanitäre Großtat oder doch „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“? Dieser Vorwurf wird Kapitäninnen und Kapitänen wie Carola Rackete von der „Sea Watch 3“ gemacht, die mit ihren Schiffen Flüchtlinge an Bord nehmen und die Häfen in Italien oder auf Malta ansteuern. Ähnliche Diskussionen rund um die Seenotrettung gab es aber vor vierzig Jahren auch schon. Damals war der Schauplatz das Chinesische Meer, und die Flüchtlinge kamen aus Vietnam. Am 13. August 1979 – nach anderer Lesart am 9. August – stach das Hospitalschiff „Cap Anamur“ von Japan aus in See und nahm sechs Wochen später die ersten „Boatpeople“ an Bord. So wurden damals Menschen genannt, die in viel zu kleinen und völlig überfüllten Booten ihr Heil in der Flucht über das Meer suchten.

Der Vietnamkrieg lag damals noch nicht lange zurück, die Rache der Nordvietnamesen am früheren Kriegsgegner nahm ihren Lauf. Hinrichtungen, Mord, Vergewaltigung, willkürliche Einweisung in Umerziehungslager – viele Menschen versuchten deshalb, sichere Länder in der Region zu erreichen. Aber der Weg übers Meer war lang, bedroht von Monsunwinden und Piraten. Und erwünscht waren sie ohnehin nirgendwo. Als es den Anrainerstaaten zu viel wurde, drängten sie die Boote zurück aufs offene Meer, die malaysische Regierung erließ sogar kurzzeitig einen Schießbefehl. Deutschland hielt sich anfangs sehr zurück, als es darum ging, Flüchtlinge aufzunehmen. Das sei Ländersache, erklärte die Bundesregierung. Geschätzt 1,6 Millionen Vietnamesen machten sich bis Ende der achtziger Jahre auf den Weg, etwa 250000 fanden dabei den Tod.

Von der Tragödie im Chinesischen Meer hatte auch der Journalist Rupert Neudeck gehört, als er im Februar 1979 nach Paris reiste. Mit den „Boatpeople“ hatte die Reise aber nicht das Geringste zu tun: Der promovierte Philosoph und frühere Jesuiten-Novize plante ein Buch über Jean-Paul Sartre und wollte deshalb ein Interview führen. Aber dann lernte er den Philosophen André Glucksmann kennen. Der war damals schon engagiert in einer Organisation, die zum Vorbild für Rupert Neudeck wurde. Das Comité „Un bateau pour le Vietnam“ (Komitee „Ein Schiff für Vietnam“) hatte die „Ile de Lumiere“ gechartert und rettete damit Bootsflüchtlinge. Neudeck traf sich mit anderen Mitgliedern dieses Komitees – und war zu seiner Lebensaufgabe gekommen.

Neudeck suchte sich Mitstreiter und fand in dem Schriftsteller Heinrich Böll einen Verbündeten von unschätzbarem Wert. Denn der Literaturnobelpreisträger galt als moralische Instanz. Über eine Veranstaltung, bei der Böll auftrat, würden die Medien breit berichten – und Medienpräsenz war das, was Neudeck brauchte. Parallel dazu baute er mit Freunden Organisation und Logistik auf, lernte, was es mit dem deutschen Vereinsrecht auf sich hat und wie wichtig die Steuerabzugsfähigkeit von Spenden ist. Vor allem aber reiste er selbst zum Chinesischen Meer.

Von Anfang an setzte der neugegründete Verein „Ein Schiff für Vietnam“ auf die Zusammenarbeit mit den französischen Partnern und anderen großen Hilfsorganisationen: Das Deutsche Rote Kreuz (DRK), Ärzte ohne Grenzen, Terre des Hommes – alle steuerten ihre jeweiligen Kompetenzen und Erfahrungen bei. Letztlich war es aber die Macht der Bilder, die die Hilfsbereitschaft der Deutschen weckte und aufrechterhielt. Denn Seenotrettung ist und war teuer. Ein Schiff musste gechartert und zum Hospitalschiff umgebaut werden, Treibstoff, Lebensmittel, eine Schiffsbesatzung und medizinisches Personal bezahlt werden. Anfangs gingen die Spenden nur spärlich ein, den Durchbruch brachte eine Fernsehsendung: Rupert Neudeck und der Generalsekretär des DRK traten gemeinsam in der Magazinsendung „Report Baden Baden“ des Journalisten Franz Alt auf. Dort berichteten sie über die geplante Rettungsaktion – drei Tage später waren 1,2 Millionen Mark auf dem Konto, und der Verein konnte den Frachter „Cap Anamur“ chartern.

Legendär. Die „Cap Anamur“ wurde zum Synonym für Seenotrettung.
Legendär. Die „Cap Anamur“ wurde zum Synonym für Seenotrettung.© Foto: picture alliance

Mindestens genauso wichtig war aber eine Garantie, die einige Wochen zuvor die Bundesregierung abgegeben hatte. „Jeder Vietnam-Flüchtling, der von … Versorgungsschiffen, die unter deutscher Flagge fahren, gerettet und aufgenommen wird, kommt in die deutsche Bundesrepublik“, gab Staatssekretär Günther van Well zu Protokoll. Dabei hatte der Politiker natürlich nicht damit gerechnet, dass sich ein Schiff gezielt auf die Suche nach Flüchtlingen machen würde.

Die erste Reise wurde aus Sicht der Medien zum Fiasko. Ein großer Pulk Journalisten war an Bord, alle wollten gerettete Boatpeople fotografieren. Die gab es aber vorerst nicht, stattdessen wurde das Schiff von den indonesischen Behörden konfisziert. Man sei widerrechtlich in die Hoheitsgewässer des Inselstaates eingedrungen, lautete der Vorwurf. Erst am 30. September 1979 wurden die ersten Flüchtlinge an Bord genommen. Im großen Stil rettete die „Cap Anamur“ Boatpeople in der Zeit zwischen 1980 und 1982, insgesamt fast 10000 Menschen; rund 35000 Menschen wurden auf dem Schiff medizinisch versorgt.

Die Dankbarkeit der geretteten Boatpeople wurde bei der Trauerfeier ...
Die Dankbarkeit der geretteten Boatpeople wurde bei der Trauerfeier ...© Foto: picture alliance
... für Rupert Neudeck (1939-2016) deutlich.
... für Rupert Neudeck (1939-2016) deutlich.© Foto: KNA-Bild

Unumstritten war die Seenotrettung nicht, auch daran hat sich nichts geändert: Die Flüchtlinge gehörten in Wirklichkeit zur wohlhabenden Mittelschicht in Vietnam, behauptete vor allem die deutsche Linke. Mit ihrer Präsenz im Chinesischen Meer würde die „Cap Anamur“ die Menschen geradezu dazu verführen, sich auf den gefährlichen Weg zu machen, argumentierten die Konservativen. Mit solchen Vorwürfen müssen auch die Seenotretter des Jahres 2019 leben. Rupert Neudeck ließ sich davon nie beirren. Er argumentierte mit dem Evangelium, mit der Erzählung vom barmherzigen Samariter.

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Das Zitat

„Menschen, die in Not geraten sind und um ihr Leben kämpfen, darf man niemals aus politischen Gründen untergehen lassen … Dass da eine Art Sogeffekt entsteht, wie oft behauptet wird – also dass immer mehr Leute auf die Boote gehen, weil sie ja gerettet werden –, das halte ich für Unsinn. Ich glaube, die Ursachen liegen woanders, nämlich in der Not der Menschen in ihren Herkunftsländern.“

Ansgar Puff, Weihbischof in Köln, stellvertretender Vorsitzender der Migrationskommission der deutschen Bischofskonferenz, zur Seenotrettung heute

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