Während die Urlaubswellen in die letzten Schulferien des Sommers rollen, ertrinken weiter Menschen im Mittelmeer: Touristen da, Migranten dort. Letztere gelten manchen, wie man zum Beispiel in Israel offenherzig ausspricht, als Eindringlinge (infiltrators). Ob die Urlauber in den fernen und oft armen Ländern von den Einheimischen auch als solche Eindringlinge erlebt werden? Müsste die Gegenläufigkeit von Flüchtlings- und Tourismusströmen nicht viel mehr zu denken geben und zu schaffen machen? Und wie müssten wirkliche „Ankerzentren“ aussehen, wo schutzbedürftige Mitmenschen tatsächlich Hoffnung tanken und Fuß fassen können?
Vor vierzig Jahren machte ein junger Philosoph und Journalist zusammen mit seiner Frau Nägel mit Köpfen. Die unzähligen Flüchtlinge, die im südvietnamesischen Meer zu ertrinken drohten, brauchten unbedingt Hilfe. Mit Heinrich Böll und einigen Unterstützern gründeten Rupert und Christel Neudeck das Komitee „Ein Schiff für Vietnam“ und charterten die Cap Anamur. Unglaublich, was da in den letzten vierzig Jahren weltweit an humanitärer Hilfe geleistet wurde und wird, trotz mancher Kritik und vielen Widerständen, „ganz unabhängig von Religion, Politik und Medieninteresse“. Dass und wie sich aus dem Projekt Cap Anamur noch weitere Initiativen wie zum Beispiel „Die Grünhelme“ entwickelten, wäre eine eigene Geschichte. Jedenfalls ist es immer das schier unermüdliche und unerbittliche Engagement Einzelner und Weniger, die da aufbrechen und konkret helfen. Sie widerstehen den allseits lauernden Ohnmachtsgefühlen und finden sich nicht ab mit der schleichenden Resignation – zum Beispiel Ärztinnen und Ärzte, die auf ein Stück Jahresverdienst verzichten und Jahr für Jahr monatsweise woanders in Notgebieten Dienst tun. Oder junge Leute, die ein ganzes Lebensjahr sozial investieren oder gar länger in den Armutsgebieten der Erde arbeiten.
Die Cap Anamur bleibt besonders mit einem verbunden: Sage und schreibe 11300 Vietnamesen wurden gerettet. Und seit 2014 sind mehr als 18000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Welch ein trauriger „Fortschritt“! Muss man es nicht ein Verbrechen nennen? Und wer könnte sich einfach rausreden und für unschuldig halten? Natürlich ist die Migrationsfrage in einer Weise explodiert, die alle Vorstellungen sprengt und weiter sprengen wird. Die Probleme sind wahnsinnig komplex, politische Konsensbildungen sind bekanntlich extrem schwierig, und leider gibt es wirklich auch Missbrauch und böse Geschäftemacherei mit den Flüchtlingen – und schlimme Angstmache vor ihnen. Aber liegt die Zentralperspektive bei all den Bemühungen wirklich auf Menschenwürde und Rettung anderer oder doch auf Selbstsicherung und Rettung der eigenen Haut in der Festung Europa?
Wie damals bei den Neudecks und ihren Unterstützern kommt es immer auf mutige Einzelne an – wie jetzt auf eine junge Frau wie die Kapitänin Carola Rackete, die sich dafür von dem Erzpopulisten Salvini behindern und verhöhnen lassen muss. Und nicht zu vergessen die vielen namenlosen Einzelnen, die durch Gebete und Spenden, durch Wort und Tat klar Position beziehen! Rupert Neudecks Lebensmaxime, auch der Wahlspruch seiner Geburtsstadt Danzig,, ist aktueller denn je: „weder tollkühn noch furchtsam“. Dass er gottesleidenschaftlich war und ein entschiedener Christenmensch, zeigte sich gerade darin, dass er (fast) nie davon sprach. Immer war der Mitmensch im Blick, „die anderen“ und ihre Not – so „funktioniert“ Mystik des Alltags. Gotthard Fuchs