Für den Soziologen Wolfgang Streeck sind die linken Parteien in Europa selbst schuld an ihrer aktuellen Krise. Die gegenwärtige Lage „schreit geradezu nach einer Linken, die die dramatisch zunehmenden Defizite vom Nahverkehr bis zum Schulsystem entschieden angeht“, sagte er im „Journal für Internationale Politik und Gesellschaft“. Auch die wachsende Ungleichheit zwischen Arm und Reich biete großes Potenzial, das kapitalistische System im Ganzen zu hinterfragen. Nach Euro- und Bankenkrise stünden die Chancen so gut wie selten zuvor, Mehrheiten für ein neues soziales marktwirtschaftliches Modell zu begeistern.
Statt die Gelegenheit zu nutzen, wären viele Parteien politisch zerstritten. Ihre Mitglieder erwarteten von ihnen einen eindeutigen ideologischen Kern – „auf den können sie sich aber in der Regel nicht einigen“. Außerdem geben sich linke Politiker laut Streeck zu oft mit reiner Rhetorik und politischen Gesten zufrieden, statt tatsächliche Richtungsentscheidungen zu fordern. So wäre die Linke durch die Asylpolitik der Kanzlerin 2015 „fast zum Merkel-Fanclub“ geworden. Dabei sei vielen allerdings entgangen, „dass Merkel spätestens im Frühjahr 2016 erfolgreich daran ging, die Grenzen nicht nur Deutschlands, sondern auch Europas wieder dicht zu machen“. Statt diese großen Entwicklungen effektiv mitzugestalten, hätten sich viele in gesellschaftspolitische Nebenschauplätze, wie die Ausarbeitung einer geschlechtergerechten Sprache und die Debatte um „Gendersternchen“, zurückgezogen. Streeck spricht von einer „Besoffenheit des links-grünen Spektrums“, das sich bevorzugt mit „ausgrenzenden Schreib- und Sprachregelungen und moralischer Verurteilung nahestehender Minimalabweichler“ befasse.
Für einen Ausgang aus der Krise müsste die europäische Linke zuerst ihr Verhältnis zum Staat überdenken, den einige radikale Gruppen als überholtes Konstrukt ablehnen. Der Nationalstaat sei aber „das einzige politische Gebilde von Bedeutung, das demokratisierbar ist“. Eine Verteilungspolitik, die helfen könnte, soziale Gerechtigkeit herzustellen, sei nur im nationalen Rahmen möglich. „In der Weltgesellschaft gibt es Spenden, von Bill Gates und Konsorten, aber keine Steuern.“ Stattdessen spricht sich Streeck für eine umfassende Dezentralisierung von politischen Entscheidungen aus. Kommunen sollten mehr Gestaltungsmacht bekommen, finanziell angeschlagene Gemeinden müssten entschuldet werden. Es brauche eine umfassende staatliche Förderung von Genossenschaften, Klimaschutzmaßnahmen und „unkonventionellen Unternehmensformen“, verbunden mit einer Abkehr von rein wirtschaftlichem Denken – „kurz einen realistischen Antikapitalismus“.