In katholischen Kreisen und Gemütern ist ja, wenn es um andrängende Reformen geht, immer sofort die Schere im Kopf am Werk: „Lehramtlich entschieden“, „Nichts zu machen“, „Das letzte Wort ist gesprochen“ – am spürbarsten derzeit wohl bei der sogenannten Frauenfrage (die ja mehr noch eine Männerfrage ist) und im Themenfeld der kirchlichen Ämter. Diese „dogmatische Selbstknebelung“ bildet sich in vielen Frustrationsfahrungen (und Übererwartungen an Papst und Bischöfe) an der Basis ab.
Der Münsteraner Theologe Michael Seewald beginnt mit einer Überraschung: Die gegenwärtige Gestalt der römisch-katholischen Kirche ist Ergebnis einer schöpferischen Modernisierung „vor allem in den Kategorien juridische Autorität und im Paradigma der entscheidungsbevollmächtigten Souveränität“ – und das im Gefolge der Aufklärung und in Analogie zu den Nationalstaaten. Aber dieser neuzeitliche Selbstgestaltungsprozess blieb halbherzig und „überreizt“: Die menschenrechtliche, freiheitsorientierte und partizipative Seite blieb verhängnisvoll unterbelichtet. Im Ersten Vatikanischen Konzil wird der Papst zum Monarchen und obersten Gesetzgeber. Es kommt fortan zur Doktrinalisierung des Evangeliums, zur „Sacerdotalisierung des Amtes“, auch zur „Verkultung der Liturgie“. Mit der „Erfindung des ordentlichen Lehramtes“, das auch bei nicht unmittelbar glaubensrelevanten Themen entscheidend mitbestimmen will, wird faktisch der Unfehlbarkeitsanspruch des Papstes (und „seiner“ Kurie) immer mehr ausgeweitet und damit unklar. So soll schon ein bloß „Apostolisches Schreiben“ des Papstes als verbindlich für alle Zeiten gelten (wie „Ordo sacerdotalis“ gegen ein Priestertum der Frau, 1994). Dabei hatte sogar Pius XII. erfrischend offenherzig betont: „Alle wissen, dass die Kirche das, was sie festgelegt hat, auch verändern und abschaffen kann.“ Einem theologischen Krimi gleich zeigt Seewald, wie gerade jene beiden Bestimmungen im neuen Kirchenrechtskodex von Johannes Paul II. 1983 unter der Hand wieder gestrichen wurden, mit denen das Zweite Vatikanische Konzil das Vorgängerkonzil zurechtgerückt hatte: die Einbettung des päpstlichen Lehramts in das aller Bischöfe und in den Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes.
Durch die Verrechtlichung von Dogma, Lehre, Liturgie und Disziplin (inklusive eines Lehrstrafrechts) ist ein Klima der Bevormundung und Reformangst, aber auch der Selbstimmunisierung und Rechthaberei entstanden, das es unbedingt aufzulösen gilt – und zwar aus Gründen des Glaubens und der (lebendigen) Tradition. Aber „gelingt es nicht mehr, einen Glaubenssatz als frohe Botschaft zu verkünden oder ihn zumindest in einen evangeliumsgemäßen Zusammenhang einzuordnen, muss sich die Lehre der Kirche ändern – und zwar auch wenn es sich um vermeintlich altbewährte Doktrinen handelt“. Dazu gehört auch der Mut, Fehler einzugestehen und sich nicht nach dem Motto „Die Kirche hat immer schon…“ als unwandelbar hinzustellen. Seewalds Hinweis zur kirchlichen Verschleierung von faktischen Lehrentwicklungen ist zur Unterscheidung der Geister ausgesprochen alltagstauglich.
Und das Beste an dieser gründlich erarbeiteten Studie aus der Mitte der Theologie: Sie lebt in jedem Satz aus entschiedener Christlichkeit. Ihr ist ein heißes Interesse an der Kirche und ihrer Reform anzumerken, ersichtlich mit der Ungeduld eines jungen Seelsorgers verfasst, für den das Konzil längst Geschichte ist. Man darf diesen Essay also unerbittlich fromm nennen, gehört doch das Thema „Wandlung“ in die Mitte des Glaubens. Er fördert den Zusammenklang von intellektueller und spiritueller Redlichkeit. Möge das Buch besonders in allen Seelsorge-Konferenzen und Gemeindeversammlungen sorgfältig gelesen und kritisch diskutiert werden.