War die klassische Grand Tour im 18. Jahrhundert eine Bildungsreise, die junge Adlige, Künstler und Intellektuelle gen Süden oder in die europäischen Metropolen führte, so geht es hier um „Reisen durch die junge Lyrik Europas“. Dabei ist „jung“ großzügig zu sehen. Das Geburtsjahr 1968 als Altersgrenze nach unten verweist unter Umständen auf gestandene Persönlichkeiten „um die fünfzig“. Wichtiger ist der Eröffnungssatz der beiden Herausgeber: „Das Europa der Lyrik ist in bester Verfassung.“ Das klingt so widerständig wie schön, und Italiano und Wagner tun alles, um diese These zu belegen. Ihr schwergewichtiger Band, der gut in der Hand liegt und augenfreundlich ist, versammelt Hunderte von Autorinnen und Autoren aus 49 Ländern und fast ebenso vielen Sprachen. So ist auch Europa großzügig zu denken. Wenn israelische, armenische oder türkische Dichter vorgestellt werden, dann deshalb, weil ihre Länder „aus geografischen wie historischen Gründen zu Europa gezählt oder mit Europa gedacht werden können und müssen“.
Die sieben von den Herausgebern vorgeschlagenen Routen mögen geografisch verwirren. Die erste führt durch Polen, Wales, Mazedonien, Island, Moldawien, Portugal und Finnland, die letzte durch die Ukraine, Deutschland, Armenien, Griechenland, Schweden, Nordirland und Slowenien. Doch unabhängig davon, ob man sich den beiden Ciceronen anschließt oder eigensinnig reist – Seite für Seite gibt es Wundersames zu entdecken. Etwa bei der Lektüre der jungen Polen, die einen nur scheinbar trivialen Alltag – zum Beispiel als „Schleusentechniker in der Weichselniederung“ (Tadeusz Dąbrowski) – mit einer erdnahen Metaphysik verknüpfen: „Der Mensch ist aus Lehm entstanden. Aus Scherben wird er/wieder zusammengeklebt“ (Łukasz Jarosz). Wer möchte, kann sich sogleich von Mitteleuropa in den Süden treiben lassen, kann polnische Assoziationen mit portugiesischen Kaffeehaus-Erfahrungen anreichern. Gonçalo M. Tavares beschreibt das feine Ritual, einem Kaffee ein Glas Wasser beizustellen. Das wird die Melancholie des Lebens gewiss nicht aufheben. „Und doch: Mein Durst ist weg/nachdem ich das Wasser getrunken habe./Und dieses rein körperliche Empfinden/beruhigt mich für eine Weile.“ Freilich muss sich Europa auch dem Dramatischen stellen. „ich lebe in einem land in dem exhumierungen schlagzeilen machen“, so der Titel eines Gedichtes des Bosniers Faruk Šehić, das die Wunden der „Jugoslawienkriege“ Mitte der neunziger Jahre bedenkt. Sein deutscher Kollege Hendrik Rost wagt einen Blick in die Zukunft, stellt in einer „Notiz an das Neugeborene“ fest: „Verzeih, wenn du kommst, wie es/hier aussieht, leblose Information/fliegt überall rum: Klimawandel,/Endlager, Menschenjagden“. „Ach Europa!“, möchte man mit Hans Magnus Enzensberger ausrufen – und dennoch unbedingt an dem einzigartigen Projekt festhalten. Die lyrische Grand Tour bietet junge Blicke auf einen alten Kontinent, dem nichts übrig bleibt, als über sich selbst hinauszuwachsen. Offenbar auch in seinen verdichteten Versen: „Täglich brechen Gedichte ab“, so der Ire David Wheatley, „und treiben, grob gesagt, auf Chile zu.“
„Ach Europa!“, möchte man mit Hans Magnus Enzensberger ausrufen – und dennoch unbedingt an dem einzigartigen Projekt festhalten. Die lyrische Grand Tour bietet junge Blicke auf einen alten Kontinent, dem nichts übrig bleibt, als über sich selbst hinauszuwachsen. Offenbar auch in seinen verdichteten Versen: „Täglich brechen Gedichte ab“, so der Ire David Wheatley, „und treiben, grob gesagt, auf Chile zu.“