Verheiratete Pfarrer, Frauen im geistlichen Amt, sogar als Bischöfinnen, eine freizügige Sexualmoral, Sakramentenspendung für wiederverheiratete Geschiedene, Synoden zur klerikalen Machtteilung und Mitbestimmung von Nicht-Ordinierten … – in den evangelischen Landeskirchen sind alle Reformen verwirklicht, die nicht wenige Katholiken wünschen. Dennoch verlassen weiterhin mehr Mitglieder die evangelische Glaubensgemeinschaft als die katholische. Noch gravierender fehlt der Nachwuchs. Der Gottesdienstbesuch ist drastisch geschrumpft, teilweise nahe Null angelangt. Die evangelische Ratlosigkeit dämpft auch die Hoffnungen realistisch denkender Katholiken, mit einer reformierend-reformatorischen Nachholbewegung dem Abbruchstrend entscheidend entgegenwirken zu können. Zudem hat die evangelische Mitgliedschaftsstudie schon früher belegt, dass die Erosion wesentlich auf einen echten Glaubensverlust und nicht nur auf eine gewisse Unzufriedenheit zurückzuführen ist.
Glauben lässt sich nicht anpredigen und nicht antrainieren. Er wächst durch Vorbilder der Andächtigkeit und staunenden Achtsamkeit, durch eine Sinnlichkeit, die jene Nachdenklichkeit nährt, in der sich der Gotteszweifel mit dem Zweifeln am Zweifel paart. Kann es sein, dass es Gott doch gibt? Dass er logischer ist als das pure Nichts, weil aus dem absoluten Nichts nichts entstehen kann außer Nichts? Aber das Nichts ist nicht. Welch ein Wunder!
Also stimmt es, dass das Wunder des Glaubens bedeutendster Antrieb ist. Wie aber lässt sich die Empfindsamkeit für das Wunderbare, gerade des Sichtbaren wecken? Oder für Christus, die sichtbare Ikone des unsichtbaren, unbekannten Gottes? Der Mensch kann sich ein Leben lang an die Antwort, die eine Frage ist, nur herantasten. Dazu braucht er die Unterstützung des Atmosphärischen, Sinnlichen, das nicht nur die Gemütswelt anregt, sondern mit der Intuition ebenso die Ratio, den Verstand. Ein ganzer Komplex von Sinnlichkeit und Nachdenklichkeit, von „natürlicher Theologie“ begleitet, ja inspiriert das Glauben. Glauben – kein Substantiv, sondern ein Verb, Tun. Glauben im eigentlichen Sinn kann jedes Individuum nur für sich, letztendlich aus sich allein. Glauben wird nicht „gemacht“, es entsteht. Gott – in jedem Denken und Fühlen anders.
Die Gutenberg-Falle
Glauben geschieht nicht „keimfrei“, nicht aus dem Nichts. Es gibt Faktoren, die den Weg zum Glauben und im Glauben begünstigen: zuvorderst das Feierliche, Festliche, Liturgische, Sinnliche, das Seele und Verstand nährt. Jede Art von Entsinnlichung hingegen entleert, beschädigt die Möglichkeit zu glauben. Auffällig ist, dass die evangelischen Kirchen landesherrlicher Prägung, die – abgesehen vom Musikalischen – der Feier des Glaubens über Jahrhunderte hinweg die – manchmal gewiss überbordende, ins Abergläubische, Magische abirrende – Sinnlichkeit entzogen, die Sprache des Symbolischen minimiert haben, schlussendlich von einer abstrakten Reinlichkeit gefangen genommen wurden. Wo das Geheimnisvolle und dessen Aura schwinden, schwindet das Geheimnis des Glaubens selber.
Das „Allein die Heilige Schrift“, das „Allein das Wort (Gottes)“ wurde zu einem Kampfbegriff der Reformation. Damit begann ein nachhaltiger Prozess, der alles auf das Wort setzte – und einengte. Das pure biblische Wort wurde sakralisiert, verabsolutiert – und vereinsamte auf diese Weise. Eine „Tragik des Protestantismus“, die der Theologe und Kulturwissenschaftler Eckhard Nordhofen in der Zeitschrift „Merkur“ (August) beleuchtet. Das reformatorische Reformmotiv war ehrenwert und verständlich: Angesichts einer spätmittelalterlichen, vorneuzeitlichen Kirche, die doktrinal unbeweglich, moralisch jedoch ausgesprochen beweglich, ja wankelmütig, „in jedem Fall aber prachtvoll“ und vielfach „korrumpiert“ war, stellte man die Frage, ob diese Kirche „die einzige Mittlerin auf dem Weg zu Gott sei“, ob es überhaupt eine solche „Heilsagentur“ brauche. Nordhofen: „Sollte man sich die Gottesbeziehung nicht als ein unmittelbares Gegenüber von Mensch und Gott denken?“ Die Heilige Schrift als Königsweg zu den „reinen Quellen des Evangeliums“? In einem radikalen Akt der Reinigung und Läuterung des kirchlich-dogmatisch-sakramentalen Überbaus sowie des philosophischen und naturalen Umfelds wurde „die Heilige Schrift zum Sakrament des Protestantismus“, zum Fundament. Mit fortschreitender historischer und literarischer Kritik sowie mit neuen Erkenntnissen der Archäologie wurde es jedoch unterspült. Der „reine“ Weg zum Glauben über die Schrift musste sich dem Seziermesser der Wissenschaften und ihrer Aufklärung ausliefern und verlor so seine „Unschuld“.
Nordhofen greift eine Äußerung des evangelischen Theologen Ingolf Dalferth auf: Die evangelische Kirche sei in die „Gutenberg-Falle“ getappt. Gemeint ist Gutenbergs Medienrevolution und die damit verbundene Erwartung, durch die massenhafte Verbreitung der biblischen Texte das „Wort Gottes“ unverbrüchlich und direkt weitergeben zu können. Reicht die Schrift allein jedoch aus, um den Willen Gottes zu erkunden? Was passiert, wenn sich das „Wort Gottes“ als überhaupt nicht eindeutig erweist, wenn es – wie bei einem Amalgam – verschmilzt mit dem Leben, wie es jenseits aller gewünschten Korrektheit ist? Wenn das „Wort Gottes“ selber als fehlerhaft, widersprüchlich, menschlich komponiert in Erscheinung tritt? Die kontinuierliche Entmythologisierung hat den Protestantismus des vermeintlich reinen „Wortes Gottes“ in die Enge getrieben. Um dem „Reinheitsprinzip“ treu zu bleiben, hat er sich mehr und mehr auf Ethik und Moral verlegt. Nordhofen vermutet, dass ein „eingeschrumpfter Protestantismus“ jedoch nur überleben kann, „wenn er auch wieder Religion sein will, die das große Gegenüber ins Spiel bringt. Mit einer logozentrischen Beschränkung auf ‚Gottes Wort‘ allein wird das nicht gelingen.“
Katholisches „Drumherum“
Zur Sinnlichkeit des Glaubens gehört eben auch das „Drumherum“: das Vage, Ungenaue, die Unschärfe, die Mehrdeutigkeit, möglicherweise auch manches „Schlampige“, das im katholischen „Sowohl-als-auch-Denken“ zwischen doktrinaler Strenge und praktischer Milde einmal beheimatet war. War! Denn die evangelische Problematik der Entsinnlichung trifft nunmehr ebenfalls die katholische Kirche. Was – manchmal polemisch – als (Selbst-)Protestantisierung oder Selbstsäkularisierung des Katholizismus bezeichnet wird, hat wohl eher hier seinen Grund. Das Katholische wird zusehends kühl, nüchtern, steril, trivial, direkt, seiner „wabernden“ Umhüllung, die jedoch zu ihm gehört, entzogen. Die Kirche wird von Unternehmensberatern zum Serviceunternehmen für Marktgängiges getrimmt und so seiner eigentümlich sperrigen Sinnlichkeit beraubt. Das Katholische verliert das Eckige, Kantige, die besondere Aura, das Herz, die Atmosphäre – und dabei jene scharfe, widerborstige, brillante intellektuelle Sphäre, die einmal wesentlich zu dieser Gemengelage aus rational-hochreligiöser Frömmigkeit und volkstümlich-flanierender Gemütsgläubigkeit dazugehörte. Alles muss irgendwie eindeutig sein, rein, klar, gefällig, einfach. Das aber war das Katholische in seiner Gesamtheit nie.
Dann gar keinen Gottesdienst?
Die Grundschwierigkeit des Ein-Gott-Glaubens war seit jeher, wie ein Gott, der „keine empirische Größe, sondern das positive Vorzeichen vor der Welt“ ist, „die er geschaffen“ hat, der sich also der Wahrnehmung entzieht, als gegenwärtig zu glauben, ja zu „veranschaulichen“ sei. Der Monotheismus hat ein – so Nordhofen – schwerwiegendes „Darstellungsproblem“. Spannend, ja aufregend beschrieben ist das literarisch bereits mit der mysteriösen „Offenbarung“ JHWHs in der Paradoxie des brennenden Dornbuschs, der nicht verbrennt. „In vormodernen Zeiten half sich der biblische Erzählkosmos durch eine bunte Palette von Wundergeschichten, Visionen“ und anderen Markierungen, die eine grundlegende „Andersheit“ Gottes gegenüber den Erfahrungen dieser Welt setzten. Dahinein sind auch Kulttraditionen der „nichtchristlichen Antike“, etwa des heidnischen Priesterlichen und der Mysterienkulte, geflossen, was in dogmatischer Korrektheit gern ausgeblendet wird. Von einer urmenschlichen, universalen sinnlichen Symbolkraft und Symbolsprache lebt aber das Sakramentale, das im Griechischen nichts anderes heißt als Mysterion. Wie kann für dieses Geheimnishafte des Heiligen eine neue Sensibilität unter heutigen Bedingungen entstehen – und somit für das christliche Glauben selbst?
Die katholische Kirche gerät in die protestantische Tragik in dem Maß, in dem sie sich einem als Reinigungsprozess missverstandenen Reduktionsprozess anheimgibt. Als Therapie gedacht, bewirkt er genau das Gegenteil. Zum Beispiel wird mit der Zusammenlegung von Pfarreien die eucharistische sakramentale „Versorgung“ abgebaut. An ihre Stelle treten „Wort-Gottes“-Feiern, die wegen der vermeintlichen Verwechslungsgefahr mit einem „Gottesdienst“ nicht einmal so heißen dürfen. Das „Wort Gottes“ und nichts als das reine „Wort Gottes“? Ohne die eucharistische Aura tappt das Katholische gleichfalls in die „Gutenberg-Falle“. Und was folgt als Nächstes?
Der Evangelische Pressedienst berichtet, dass aus dem Hannoveraner Kirchenamt der evangelischen Kirche bereits eine Radikal-„Lösung“ angesichts der Gottesdienstschwindsucht angedacht ist: Wo der Sonntagsgottesdienst kaum mehr gefragt sei und wo auch Pfarrer nicht mehr hinreichend zur Verfügung stehen, könne man ihn gleich ganz abschaffen. Zitiert wird der EKD-Cheftheologe Thies Gundlach: „Die Rede vom Verlust des Sonntagsgottesdienstes funktioniert immer auch ein wenig nach dem Motto ‚Wann wird es wieder so, wie es noch nie war?‘. Denn der Sonntagmorgengottesdienst hat seit Jahren schon nicht mehr seine klassische Funktion als ‚Mitte der Gemeinde‘.“ Eine Studie belege, dass er oft nur noch ein „Zielgruppengottesdienst“ sei für „ehrenamtliche Mitarbeiter und hochverbundene Kirchenmitglieder“. Es gehe dabei laut Gundlach nur noch um „eine intensive Identitätsvergewisserung“. Man feiert und bleibt unter sich. Dann aber muss ein solcher Gottesdienst nach Ansicht des Theologen nicht an jedem Sonntag an jedem Ort stattfinden. „In theologisch begründeter Freiheit“ könne jede Gemeinde selber entscheiden, wie viel Gewicht sie einem regelmäßigen Sonntagsgottesdienst einräumt und wie viel anderen Gottesdiensten.
Heftig widerspricht der Bonner evangelische Liturgiewissenschaftler Michael Meyer-Blanck. Es sei verhängnisvoll, gerade beim Sonntagsgottesdienst ein „Rückzugsgefecht“ zu beginnen. Der Gottesdienst sei das entscheidende Zeichen der „Repräsentanz des Evangeliums in der Gesellschaft“. Daher müsse man sich um das Liturgische intensiv bemühen. „Wir müssen den Sonntagsgottesdienst so stark wie möglich machen und auch die Hochverbundenen in der Kirche stärken. Sie wirken als Multiplikatoren.“
Der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack befürchtet einen gottesdienstlichen Kahlschlag. Aus der Religionsgeschichte wisse man um die Bedeutung der religiösen Wiederholung, der Gewohnheiten, der Routine. Allerdings verlangt auch Pollack liturgische Reformen.
Worte, Worte, Worte
Das betrifft nicht minder die katholische Kirche. Die Liturgiereform des Konzils ist Geschichte. Das seinerzeit Erneuerte reicht nicht mehr und trifft vielfach nicht mehr die gewandelten Lebensgefühle der nachfolgenden Generationen. Die jungen Leute pflegen und erwarten eine neue Art der Sinnlichkeit im Freundes-Netzwerk des Alltags. Das wirkt sich auch auf eine mögliche Sensibilisierung für das Sakrale aus. Das Heilige ist aus der Wahrnehmung der Menschen ja keineswegs verschwunden, hat sich jedoch versteckt. Es muss erst hervorgelockt werden, hinein ins Alltagsbewusstsein wie ins religiöse Bewusstsein.
Die „Wort-Gottes“-Feiern mögen gut gemeint sein, weisen aber in die falsche Richtung. Sie erhöhen die Wortlastigkeit, die jetzt schon das Mysterion Eucharistie stört, wenn nicht zerstört. Zu viel Erklärendes, zu viel Belehrung, zu viel Trivialität, zu viel Zerreden mit Zwischenreden und Zusatztexten, zuwenig Verzauberung in einer trotz aller Entzauberung gerade durch die Naturwissenschaften neu verzauberten Welt. Die Liturgie wird wortreich gedehnt, ihr fehlt der Spannungsbogen, der „Drive“, die Dynamik des Voranschreitens. Die Gläubigen fühlen sich drangsaliert.
Damit die „Wort-Gottes“-Feiern gegenüber der verloren gegangenen Eucharistiefeier nur ja nicht zu kurz geraten, werden sie textlich aufgebläht. Mehr ist besser? Die Fürbitten mit ihren infantilen, moralisierenden Botschaften sprengen jedes Maß des Erträglichen. Die Folge: gedankenloses Plappern „Wir bitten dich…“ Im nachtridentinischen Zeitalter hat sich trotz der Liturgiereform des Konzils vielerorts wieder ein pures „Messelesen“ breitgemacht.
Wieviel Platz hat im Kult das spirituell so wichtige zwanglose Schauen, Riechen, Lauschen? Das absichtslos Umherschweifende, Flanierende der Sinneswahrnehmungen? Oder die Bewegung – ein höchstes Bedürfnis der Menschen gerade in Zeiten sitzender Berufe? Es gibt fast keine Prozessionen mehr, abgesehen von der immer kürzer werdenden Schlange beim Kommunionempfang. Dazu noch ein bisschen Körperbewegung beim pflichtschuldigst absolvierten Friedensgruß, der nicht viel mehr ist als jedes säkulare Händeschütteln. Braucht man das noch – in der Liturgie? Wo küsst sich ein Paar? Wo umarmen sich Freunde? Selbst Ehepartner reichen sich aseptisch die Hand.
Einfach mal „abschalten“
Das Leibliche ist ausgesondert. Stehen, Sitzen, bei der „Wandlung“ kurzes Knien – das war’s. Ohne bewusste Präsenz abgeleistet wie immer. Der Körper nimmt den Wechsel der Haltung kaum mehr wahr. Expressive Gebärden – etwa beim Beten? Fehlanzeige. Nicht einmal mehr die Kleidung verweist auf das Besondere des sonntäglich-österlichen Festes. Keine Farben, keine Exotik, keine Erotik. Überall herrscht der übliche Werktagsdress. Mit solchem Outfit würde sich keiner ins Theater trauen, geschweige denn in die Disco. Wie sehr fällt dagegen die Afrikanerin auf, die, wunderbar geschmückt in farbenprächtigem Gewand – von Sonntag zu Sonntag abwechslungsreich –, in den Gottesdienst kommt. Eine Frau, die in einem Container für Asylbewerber wohnt…
In Taizé hat man erkannt, wie wichtig die meditative, singende Wiederholung ist – unterbrochen für längere Phasen der Stille, des Schweigens, der Besinnung. Sinnlich eben. Einfach mal Nichts. Der Eucharistie fehlt vor lauter „tätiger Teilnahme“ der Gegenpol: die beglückende Distanz der nichttätigen Teilhabe, das funktionslose „Draußensein“, das „Abschalten“ in einem in sich versinkenden Schweigen. Alles muss dauernd tönen. Selbst bei der Kommunion trällert die Orgel irgendetwas nebenbei, ein Hintergrundrauschen wie im Kaufhaus. Allerdings wird eine Kunstpause, ob man will oder nicht, stets aufgedrängt: nach der Predigt, die aber so belanglos sein kann, dass man sich fragt, wozu die „Einkehr“ gut sei, wenn es doch nichts zu meditieren gibt?
In Taizé laden die vielen Kerzenlichter gerade im Dämmrigen, in der Dunkelheit zum inneren Schauen, Betrachten, zum stillen Beten ein. Doch modern katholisch gilt die Schaufrömmigkeit als veraltet: das schweigende Verharren vor einer Monstranz, in deren Mitte der „Leib des Herrn“ der meditativen Betrachtung „ausgesetzt“ ist. Wie bewegend diese fromme Übung jedoch auch heute sein kann, war auf dem Marienfeld des Weltjugendtags in Köln zu erleben, als Hunderttausende junge Leute die Nacht schweigend vor einem künstlerisch-ästhetisch anspruchsvollen Schaugefäß verweilten – und im Angesicht des Heiligsten schließlich erschöpft einschliefen. Wirklich nur eine Spiritualität „von gestern“ oder gar „vorgestern“? Ein wenig „Schaufrömmigkeit“ bedient immerhin noch das Osterfeuer, das die Leute in größerer Zahl anzieht, vor allem Familien mit Kindern. Aber häufig ist das Feuer, das eigentlich die Nacht erhellen soll, auf ein bloß noch andeutendes sanft glimmendes Zündeln verkleinert – oder völlig aufgegeben.
Welche Symbolkraft ließe sich gewinnen aus der Schau-„Lust“ der jungen Generation, die gern ins Kino geht, die über Instagram Bildwelten mit vielen anderen teilt – und musikalisch längst über das neue geistliche Lied hinaus in ganz andere Hör- und Zeitgefühle weitergewandert ist. Welche weiteren liturgischen Reformen könnten helfen, die tief im Menschen verankerte Sinnlichkeit des Daseins in sakraler Symbolsprache wirken zu lassen – und das ganz ohne banale Anbiederung? Liturgie ist Anthropologie und muss sich um des Glaubens willen weiterentwickeln, wie es seit jeher der Fall war. Nordhofen bedauert, dass Gebildete das christliche Erbe heutzutage „mit ethnologischem Blick als einen Gegenstand der historischen Forschung und musealen Denkmalpflege“ betrachten. Gott aber ist kein Museum.
Die Vielfalt der Gottesdienstformen von einst wurde eingedampft auf die Monokultur von Eucharistie und „Wort-Gottes“-Feier. Wie ließen sich zum Beispiel Andachten für Andächtige gewinnen mitten im Tageslauf, als „Aussetzer“ im Trott? Wenige Minuten gegen das Triviale. Warum gibt es mittags allenfalls in bedeutenden Kathedralen oder Citykirchen da und dort eine kurze Gebetsstunde? Es fehlt an Personal? Bei derart vielen haupt- und nebenberuflichen Theologinnen und Theologen, Religionslehrerinnen und Religionslehrern wie in kaum einem anderen Land?
Das verwaiste Pfarrhaus
Und wie steht es um die geistliche Präsenz – räumlich und zeitlich? Einst war das evangelische Pfarrhaus eine Institution der Gegenwärtigkeit, ein Mittelpunkt christlicher Ansprechbarkeit mitten im Getriebe des Alltäglichen. Wenn der Pfarrer außer Haus war, war seine Frau, die „Frau Pfarrerin“, obwohl keine ordinierte Theologin, da für alle, die anklopften. Die katholischen Pfarrhäuser sind oft leer, wie verwaist, die Pfarrbüros bloß stundenweise besetzt (wer weiß, wann genau?). Eine Haushälterin öffnet nicht mehr die Tür. Die „gute Seele“ gibt es kaum noch. Der Pfarrer soll und muss Single sein. Das tut weder ihm noch seiner Gemeinde gut. An der personalen Nähe aber entscheidet sich vieles, oft alles – in allen Berufen.
Die katholische Kirche in Deutschland plant einen „synodalen Weg“. Wieder geht es um das Übliche, unendliche Male behandelt und gefordert. Langweilig. Jeder Beteiligte weiß: Es gibt da nichts Neues mehr. Es liegt am Papst, ein Konzil einzuberufen und/oder alleine zu entscheiden – so oder so, ja oder nein.
Anderes wäre unsere gemeinsame ökumenische Sache, ob katholisch, evangelisch oder sonstwie christlich: die Atmosphäre des Sinnlichen im Glauben und für den Glauben wiedergewinnen. Besonders im Raum des Kultes, des gemeinschaftlichen Betens und Feierns. Im österlich-liturgischen Sonntagsfest ereignet sich unsere Freude und Hoffnung. Werktags – wie schön – manchmal auch.