Der Niedergang des Papsttums auf dem politischen und diplomatischen Parkett begann mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges. Die Entwicklung war 1804 auf einem Tiefpunkt angekommen, als Napoleon Papst Pius VII. zum Handlanger seiner Selbstkrönung machte. Außerhalb der Kirche spielten die Päpste im 19. Jahrhundert eine immer geringere Rolle, auch weil die Nationalstaaten sich in ihren Selbstbegründungen immer mehr von der Religion zu entfernen suchten. Als 1846 Pius IX. sein Pontifikat antrat, keimte bei liberalen Katholiken die Hoffnung auf eine Versöhnung zwischen der Kirche und den zum Säkularismus neigenden Nationalstaaten auf und damit auf eine neue Rolle des Papsttums.
Im Nachhinein jedoch verbindet sich mit dem Pontifikat Pius’ IX. vor allem sein bizarres Unfehlbarkeitsdogma – und die wenig souveräne Schmoll-Ecke, zu der er den Vatikan machte, als er sich 1870 zum Gefangenen des neuen Italien erklärte.
Was sich mit dessen Nachfolger Leo XIII. verbindet, ist wesentlich zukunftsträchtiger. Dessen Amtszeit wird heute untrennbar mit seiner Enzyklika „Rerum novarum“ („Über die neuen Dinge“) als Ausdruck seines Engagements für die Arbeiter und seiner Forderung nach sozialer Gerechtigkeit verbunden. Diese Frage hat an Aktualität nichts eingebüßt. Womöglich ist aus heutiger Sicht die katholische Soziallehre und der Einsatz für Gerechtigkeit das entscheidende Feld, auf dem die Kirche Interesse weckt.
Erstes Interview mit einem Papst
Der Augsburger Kirchenhistoriker Jörg Ernesti beschreibt die 25-jährige Amtszeit Leos XIII. unter der Überschrift „Papst und Staatsmann“. Er bettet „Rerum novarum“ somit in das Bemühen des Vatikan ein, bei internationalen Konflikten und bei der Lösung entscheidender Fragen der Moderne wieder die Bedeutung zu erlangen, die er einstmals hatte. Nach vier knappen Kapiteln über die vorpäpstliche Lebensgeschichte des 1810 unweit von Rom geborenen Gioacchino Pecci widmet der Autor die sieben folgenden Kapitel je einem Schwerpunkt: dem Amtsverständnis von Leo XIII., seiner Auffassung von internationaler Politik, dem Missionsgedanken (unter anderem mit der Verurteilung des Sklavenhandels und einem lehramtlichen Lob an die brasilianische Regierung zur Abschaffung der Sklaverei), der Ökumene, der Erneuerung der Gesellschaft, der innerkirchlichen Reform sowie dem Verhältnis der Kirche zu Wissenschaft und Technik. Im letzten Kapitel geht es um das Lebensende.
Der Titel eines längeren Nachworts lautet: „Ein Papst an der Schwelle zur Moderne“. Aber hat Leo XIII. diese Schwelle überschritten? Sieht man einmal von dessen Gespür für die sich damals zuspitzende soziale Frage ab, ist wohl eher das Gegenteil der Fall. Zum Beispiel betont der Verfasser, Leo XIII. sei „der erste Medienpapst“ gewesen und habe die Bedeutung von Medien und Öffentlichkeit erkannt: „Erstmals in der Geschichte ließ sich in der Person Leos XIII. ein Papst interviewen, noch dazu von nichtkirchlichen Zeitungen.“ Ebenso wird erwähnt, dass der Papst die Medien als „Hinwendung zu den Massen“ benutzte. Allerdings wäre in der Beurteilung des Sachverhalts, dass ein Papst sich als väterlicher Führer der „katholischen Massen“ inszeniert, durchaus eine kritische Bemerkung zu erwarten. Sätze wie „dass die nicht zur katholischen Kirche gehörenden Menschen kein Heil finden können“ und dass „die Gemeinschaft mit dem Papst Gewähr bietet für die Einheit der Menschheit“ sollten als Aussagen eines Papstes am Ende des 19. Jahrhunderts verstanden werden, als „theologische Reflexion“, wie sie Ernesti kennzeichnet, sind solche Vorstellungen jedoch überholt.
Im Sog des Antimodernismus
Dabei böte eine kritische Auseinandersetzung mit solchen päpstlichen Aussagen durchaus den Stoff, die Sackgassen zu zeigen, in die sich der verbissene Kampf zwischen den Antimodernisten im Vatikan und ihren säkularen Gegnern verrannt hatte. Letztere meinten, auf Religion im allgemeinen und auf den Katholizismus im besonderen verzichten zu können. Die Schwierigkeit der Religionskritik des 19. Jahrhunderts lag darin, dass sie sich nicht wirklich von dem mal biederen, mal aggressiven Antiklerikalismus emanzipiert hatte und jede Form von Transzendenz und Spiritualität als Obskurantismus abtat. Was hatte Leo XIII. jedoch auf den Kern der Religionskritik zu erwidern, die in der Vorstellung vom freien, weil autonomen Menschen ruht – was religiöse Spiritualität ja keineswegs ausschließt? Offenbar nicht viel, außer dass es „die Reihen zu schließen“ und „die Truppen zu sammeln“ gelte. Diese Formulierungen ziehen sich wie ein roter Faden durch dieses Buch, wenn von kirchlichen Gegnern die Rede ist.
Ob Leo XIII. ein Staatsmann war, sei dahingestellt. Aber seine immer wieder hervorgehobene „Hinwendung zu den katholischen Massen“ als eine „Kehrtwende hin zur Demokratie“ zu deuten, ist mehr als gewagt, wenn gleichzeitig festgestellt wird: „Mit der Ablehnung der Volkssouveränität geht bei Leo XIII. einher die Ablehnung der modernen Menschen- und Freiheitsrechte, die von der Aufklärung proklamiert worden waren und die nach modernem Verständnis Voraussetzung für ein demokratisches Staatswesen sind.“
Besonders schmerzlich angesichts der die heutige Kirche erschütternden Skandale ist die unkommentierte Feststellung, dass sich Leo XIII. „auf der Linie des ‚Syllabos errorum‘ Pius’ IX. aus dem Jahr 1864“ befunden habe, „der in Nr.42 die These verurteilt hatte, staatliches Recht stehe über kirchlichem Recht“. Jener „Syllabus“ hatte unter anderem zahlreiche liberale Errungenschaften der Moderne, zum Beispiel die Religionsfreiheit, zurückgewiesen.
Sollte man nicht, statt Leo XIII. um jeden Preis als „modernen“ Papst darzustellen, zeigen, wie sehr sich die Kirche durch eine Wagenburgmentalität gegenüber den Herausforderungen der Zeit selbst ins Abseits manövrierte? „Nicht zuletzt durch die Propaganda der Sozialisten wurde die Kirche mit den konservativen gesellschaftlichen Kräften in Verbindung gebracht“, heißt es im Kapitel über die Erneuerung der Gesellschaft. Und zuvor notierte Ernesti doch selber zur Staatslehre Leos XIII.: „Der konfessionelle Staat, der der katholischen Kirche Privilegien gewährt, die anderen Religionsgemeinschaften verwehrt bleiben, ist für ihn das Ideal.“ Dieses Ideal kirchlicher Privilegien sollte sich übrigens unter Papst Leos Nachfolgern Pius XI. und Pius XII. als bitterer Irrtum erweisen.
Es sind nicht die zeitgebundenen Aussagen dieses Papstes, die den Leser ratlos zurücklassen, vielmehr die Widersprüchlichkeiten einer Lebensbeschreibung, die ihn zum Avantgardisten einer katholischen Moderne stilisiert – der er wahrscheinlich gar nicht sein wollte. Man lese nur seine Zurückweisung des 1889 auf dem Campo de’ Fiori aufgestellten Denkmals für den öffentlich als Ketzer verbrannten Giordano Bruno (1548–1600). Durch dieses werde „die Religion Jesu Christi mit bedeutendem und bleibendem Unrecht beleidigt.“
Die Rechte der Arbeiter
Die Stärke von Papst Leo XIII. lag darin, dass er die soziale Frage als die Herausforderung seiner Zeit erkannte. Er setzte sich für die Rechte der Arbeiter ein und übte Kritik an der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Womöglich war das der wichtigste Schritt seiner Amtszeit. Leo XIII., so Ernesti, habe erkannt, dass strukturelle Veränderungen im Sinne einer echten sozialen Marktwirtschaft notwendig seien. Anstrengungen eines Adolph Kolping oder des Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler erhielten dadurch neue Kraft.
Jörg Ernestis Buch zeichnet das Bild eines Papstes, der für die Akzeptanz der Kirche gerade in der katholischen Arbeiterbewegung eine wichtige Rolle spielte. Das bisweilen überschwängliche Lob jedoch irritiert, vor allem dann, wenn ohne kritische Distanz das Prinzip dieses Papstes mit folgenden Worten eingeordnet wird: „Was zählte, war die Realpolitik, und die verlangte aus seiner Sicht, sich in den bestehenden Verhältnissen einzurichten.“ Für einen Staatsmann fehlte es Leo XIII. am Willen zur Gestaltung sowie am Verständnis für zunehmende Autonomie und Vielfalt, durch welche eben diese bestehenden Verhältnisse selbst instabil wurden.
Dass Papst Leo XIII. klar betonte, wie sehr die Religion einen notwendigen Beitrag zur Lösung der sozialen Frage leisten kann, macht diesen Kirchenführer auch heute noch zu einem interessanten Gesprächspartner. Leider widmet das Buch diesem Gesichtspunkt nur zehn der fast 500 Seiten.