Die Eucharistiefeier, die mich am nachhaltigsten beeindruckt und geformt hat, war weder eine Papstliturgie in Sankt Peter in Rom noch eine Bischofsweihe in einer romanischen oder gotischen Kathedrale, auch nicht der Lichterglanz der Mitternachtsmesse in der stillen, der heiligen Nacht. Meine beeindruckendste Eucharistiefeier fand an einem gewöhnlichen Januarsonntag in einer schlichten Dorfkirche auf Puerto Rico statt.
Im Rahmen einer internationalen ökumenischen Tagung beschloss die katholische Delegation, vor Programmbeginn mit der katholischen Ortsgemeinde zusammen zu feiern. Das Gotteshaus war gut gefüllt. Die Leute strahlten Heiterkeit und Freude aus. Zwei alte Männer und eine betagte Frau holten aus ihren Gitarren an Klang und Harmonie heraus, was sie an Jubel und Lobpreis hergaben. Beim Friedensgruß fielen sich die Teilnehmer herzlich in die Arme. In meinem Blickfeld stand ein hoch aufgeschossener Junge, ungefähr siebzehn Jahre alt, der sich mit unbeschreiblicher Zartheit zu seiner Mutter niederbeugte und ihr einen Kuss auf die Stirn gab. Alle gingen zur Kommunion. Wir Leute aus dem Norden dieser Erde waren wie neugeboren nach dieser Liturgie. Keiner hat diesen Sonntag wohl je vergessen.
Tut dies!
Was war das Spektakuläre an dieser an sich ganz unspektakulären Sonntagsfeier? Hier war zu erleben, was das Wesen von Eucharistie ist. Sie ist nicht Hürde vor der „eigentlich“ wichtigen Kommunion. Die kann auch ohne sie gereicht werden. Sie ist auch nicht einfach Vergegenwärtigung Jesu Christi. Dieser ist nach der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils anwesend in allen Sakramenten, in der Bibellesung, in jeder Zusammenkunft in seinem Namen (vgl. Art. 7 der Liturgiekonstitution „Sacrosanctum concilium“). Ein Wortgottesdienst würde reichen. Aber dort und anderswo würde nicht seine Weisung vollzogen: „Tut dies zu meinem Gedächtnis.“ Dieses aber ist nach dem Zeugnis des Neuen Testaments die Eucharistie, die vergegenwärtigende Feier des Herrenmahles vom ersten Gründonnerstag, jene Essensgemeinschaft, konstituiert durch die Selbstgabe Jesu in Brot und Wein.
Nach gemeinbiblischem Verständnis ist jede Tischgemeinschaft Lebensgemeinschaft mit Gott (vgl. zum Beispiel Jes 25,6). Deren Verweigerung oder der Ausschluss von ihr („Ex-Kommunikation“) ist umgekehrt wirksames Zeichen des Bruches mit ihm. So lehnten die Pharisäer zur Zeit Jesu, die Abgesonderten, jede Tischgemeinschaft mit den Nichtjuden, dem „Nicht-Gottes-Volk“, grundsätzlich ab.
In diesem Rahmen spielt sich auch die öffentliche Tätigkeit Jesu ab: Während aber sonst die Gottlosen und Gottfernen vom Gemeinschaftsessen ausgeschlossen werden, sucht er gerade die Mähler der Zöllner und Sünder auf und macht sich im wahrsten Wortsinn gemein mit ihnen (Mk 2,15ff und Parallelstellen). Er nimmt darin jenes heilschaffende Abendmahl im Horizont seines Erlösungsleidens vorweg, das sich seinerseits auf das Hochzeitsmahl am Ende der Zeiten öffnet (Lk 22,30). Eucharistie ist aus diesem Grund Quelle, Mitte, Höhepunkt und Vollendung von Kirche, wie es unter anderem in der dogmatischen Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über Kirche heißt („Lumen Gentium“, Art. 11).
Das aber ist sie als Mahlgemeinschaft, als „Miteinander-Essen“ (synesthiein, vgl. Gal 2,12). Man kann dann mit dem Neutestamentler Franz Mußner (1916–2016) formulieren: „Das Wesen des Christentums ist synesthiein.“ Eucharistie wirkt Kirche.
Das hat zur Bedingung, dass Kirche Eucharistie wirkt. Sie muss zu dieser besonderen Mahlgemeinschaft kräftig aufrufen. Das aber tut sie immer sparsamer. Die logische Folge ist der Rückgang des kirchlichen Lebens, den wir hierzulande und an vielen anderen Orten dieser Erde wahrnehmen und der katastrophale Dimensionen hat.
Essen vor Ort
Die Zahl der Teilnehmer an der Sonntagsmesse beträgt gemäß den Angaben der Bischofskonferenz für 2018/2019 nur mehr 9,3 Prozent (vgl. „Katholische Kirche in Deutschland. Zahlen und Fakten 2018/19“). Ausgetreten sind demnach 216078 katholisch Getaufte, annähernd so viele, wie die Bistümer Dresden-Meißen und Magdeburg zusammen Mitglieder haben (222857). Die Zahl der Priester hat in den letzten beiden Jahrzehnten um knapp 22 Prozent abgenommen (2000: 17129; 2019: 13285). Der Klerus ist im Durchschnitt überaltert, oft ausgelaugt, in zahlreichen Fällen lediglich bedingt einsatzfähig.
Der „Gläubigenmangel“ wiederum hat zahlreiche Ursachen. Beinahe immer hat er damit zu tun, dass die Kirche nicht mehr attraktiv erscheint, das heißt wörtlich: anziehend, verlockend genug, um an ihrem Gemeinschaftsleben, am gemeinsamen Essen teilzunehmen. Hand aufs Herz: Warum sollte eigentlich eine junge Christin oder ein junger Christ an einer Messe teilnehmen, die lustlos heruntergelesen und deren Predigt mit weitgehend inhaltsfreien Sätzen abgelesen wird? Eine Weiterführung der Liturgieerneuerung steht dringend an.
Und selbst wenn die jungen Leute trotzdem mitfeiern wollten: Sie finden immer seltener Gelegenheit dazu. Die sinkende Priesterzahl und die Seltenheit der sonntäglichen Eucharistiefeiern hängen miteinander zusammen. Kurzsichtig ist das Patentrezept der Zusammenlegung mehrerer Pfarreien in eine Organisationseinheit mit dem nicht eben spirituellen Namen „Seelsorgeeinheit“. Anfänglich als Gemeinschaft von Pfarreien gedacht, entwickelt sie sich kraft eigenen Schwergewichts zur (zentralistisch konzipierten) Großpfarrei. Ist es nicht eigentlich doch wie früher, nur dass die Kirchwege weiter geworden sind? Aber die Leute fahren schließlich auch ein paar Kilometer in den nächsten günstigen Supermarkt, heißt es…
Diese verbreitete „Entschuldigung“ ist aus mehreren Gründen naiv: Der körperliche Hunger, der in den Supermarkt treibt, hat nicht unbedingt eine Entsprechung im Bedürfnis nach dem – siehe oben: langweiligen – Gottesdienst. Zudem verfügt nicht jeder über die nötige Mobilität. Die Neunjährigen haben noch keinen Führerschein, die Neunzigjährigen können sich oft seiner nicht mehr bedienen. Die Generationen dazwischen aber schlafen am Sonntagmorgen lieber aus. Vor allem: Der Mensch lebt nicht vom Restaurantbesuch, sondern vom Miteinander-Essen dort, wo er sein Zuhause, seine Heimat hat. Kirche ist wirksam nur vor Ort, wie immer auch konkret dieser Ort zu bestimmen ist. Hier kann Gemeinschaft entstehen, wachsen, fruchtbar werden, im natürlichen wie im geistlichen Leben. Damit hängt zusammen: Da eine Änderung der Lage nicht absehbar ist, werden die pastoralen Räume demnächst immer wieder neu zugeschnitten werden müssen. In mancher deutschen Diözese arbeitet man heftig daran. Die eventuellen Ansätze zur Gemeinschaftsbildung werden also immer von Neuem zerstört.
Das NT ohne Denkblockaden
Kirche muss in verstärktem Maß Eucharistie wirken, damit diese die Kirche aufbaut. Sie braucht somit eucharistiefähige Priester, daran führt kein Weg vorbei. Ursprünglich waren ausweislich der Pastoralbriefe im Neuen Testament die Zugänge zum Amt einfach: Christliche Lebensführung eines Anwärters vorausgesetzt (vgl. 1 Tim 3,1–7), genügte es offenbar, dass „die Ältesten“ sich von seinem Charisma überzeugten, ehe sie ihm die Hände auflegten (1 Tim 4,14). Andere Maßstäbe bestanden, soweit wir wissen, nicht, auch nicht der des Geschlechts.
Heute hingegen gibt es einen ganzen Katalog davon: Wer Priester werden will, muss Mann sein, Abitur haben, die klassischen Sprachen (irgendwie) kennen. Er muss ein Hochschulstudium absolvieren, sich während dieser Zeit internieren lassen (Priesterseminar als Internat), muss gehorsamswillig und eheunwillig sein sowie Sonderkleidung anlegen – um die wichtigsten Anforderungen zu nennen. Nach meiner pastoralen Bereitschaft bin ich jedenfalls nie gefragt worden.
Aus dieser Liste blockieren vor allem zwei amtliche Vorgaben den Weg zum Priestertum: das Zölibatsgebot für die Priester des lateinischen Ritus und das Ordinationsverbot für Frauen. Unstrittig ist, dass die erste Vorgabe kein zwingendes Glaubenserfordernis ist, sondern seit Beginn des zweiten Jahrtausends eindeutig aus Gründen verordnet wurde, die heute niemand mehr vorbringt: Sexualität mache faktisch unrein, Verhinderung des Verlusts von Kirchengut, höherwertiger Spiritualität und so weiter. Geblieben ist der Hinweis, der Zölibat sei ein – so sagte Papst Johannes Paul II. – „großes Geschenk Gottes an die Kirche“. Wohl wahr, aber der Priestermangel legt nahe, dass Gott dieses Geschenk anscheinend nicht mehr ausreichend gewährt. Geschenke einfordern kann man aber nicht.
Symboltheologie ohne Argument
Problematischer ist zweifelsohne die Versagung des Weihesakraments an Frauen. Sie durften bisher nie Priesterinnen werden, vor allem deswegen freilich, weil die Frage nie praktisch (höchstens beim kasuistischen Bedenken der Möglichkeiten) auf dem theologischen Programm gestanden hat. Das tut sie erst seit wenigen Jahrzehnten. Die kirchlichen Autoritäten haben sich redlich Mühe gegeben, die Diskussion möglichst nicht aufkommen zu lassen. Geholfen hat es nichts. Das Thema bleibt trotz aller amtlichen Bemühungen auf der Tagesordnung. Die Übereinstimmung des Gottesvolks mit dieser Lehre ist bisher gescheitert. Das ist unter anderem ein Hinweis darauf, dass die beigebrachten Argumente nicht überzeugen. Sie sind in der Tat entweder von fragwürdiger Belastbarkeit (dass die Zwölf Männer sind, ist keine Option Jesu gegen die Frauenweihe, sondern für seinen Anspruch, ein neues Gottesvolk zu berufen) oder symbolischer Natur (der Mann Jesus muss von einem Mann repräsentiert werden). Hier aber gilt der Satz, den Thomas von Aquin unter Berufung auf Augustinus und Dionysius Areopagita aufgeschrieben hat: „Symboltheologie hat keine Beweiskraft“ („Symbolica theologia non est argumentativa“, in: „Contra retrahentes“, 1271).
Was ist angesichts dieser Fakten von dem Gedanken zu halten, dass Gott der Kirche nach wie vor ihre Eucharistiefähigkeit schenkt, aber vielleicht auf ganz neue, ungewohnte Weise? Man darf einmal ein Zahlenexperiment wagen. Laut der angeführten Statistik der Bischofskonferenz gibt es in Deutschland gegenwärtig 2069 Diakone, 1778 männliche Laien im pastoralen Dienst, 161 Männer in einem Säkularinstitut. Dazu kommen 14257 Ordensfrauen, 1495 weibliche Pastoralmitarbeiterinnen sowie 1202 Frauen in Säkularinstituten. Zusammen stehen also 4008 Männer und 16954 Frauen, ergibt 20962 Personen, zur Verfügung, die theologisch hinreichend ausgebildet sind, manchmal in gleichem Umfang wie die Priester. Sie sind seelsorglich engagiert, spirituell geformt. Fast genauso viele junge Frauen und Männer (18824) stehen derzeit im Theologiestudium. Viele davon werden in den kommenden Jahren einer der genannten Gruppen zugehören.
Der Schlüssel, der immer passt
Die deutsche Kirche verfügt mithin über ein gewaltiges Potenzial an Mitgliedern, die grundsätzlich fähig und in der Lage wären, die Situation des Priestermangels kurzfristig zu beheben. Wie viele wären bereit, sich als Personae probatae, als bewährte Personen, ordinieren zu lassen? Untersuchungen sind mir nicht bekannt, aber wie viele andere schließe ich aus Gesprächen mit diesen Kirchenmitgliedern, dass es nicht wenige sein dürften.
Die zunehmende Eucharistieunfähigkeit der Kirche und die damit einhergehende Unfähigkeit zu Evangelisation und Erneuerung sind nicht gottgegebenes Schicksal, dem man sich demütig zu ergeben hat. Sie haben einen Gutteil, vielleicht alles damit zu tun, dass sich die Verantwortlichen in der Glaubensgemeinschaft weigern, großzügig und mutig wie einst Paulus die Zeichen der Zeit zu erkennen, die Propheten, die sie deuten, ernstzunehmen und die daraus sich ergebenden Reformschritte angstfrei zu gehen. Aller Anfang dazu ist die Erneuerung und Verlebendigung des Miteinander-Essens in der Eucharistie. Sie ist und bleibt „das Herzgeheimnis des neuen Bundes“. Um dieses „baut sich die Kirche. Sein Vollzug ist ihr lebendiger Herzschlag“, wie es der Theologe Romano Guardini in seinem Buch „Der Herr“ formulierte. So ist die Eucharistie der Schlüssel zur Neubelebung des Christentums. Der einzige Schlüssel, der das wie und wo auch immer Verschlossene unserer Situation öffnen kann. Wir dürfen sicher sein: Dann werden sich ganz von selber die fröhlichen Kräfte der Reich-Gottes-Botschaft wieder zur Geltung bringen – wie damals in der Dorfkirche auf Puerto Rico.
Wir laden unsere Leserinnen und Leser herzlich dazu ein, sich an der Diskussion über den Synodalen Weg zu beteiligen.