Zum Tod von Gottfried Böhm (gest. 9. Juni 2021)Experiment und Baustelle: Der Mariendom von Neviges

Der Mariendom im nordrhein-westfälischen Neviges ist ein wegweisender Sakralbau der Moderne. Erbaut in den sechziger Jahren von Gottfried Böhm, hat dessen Sohn Peter die notwendige Sanierung übernommen.

Eine neue Kirche für eine neue Zeit: Vor gut fünfzig Jahren wurde der Mariendom in Neviges bei Velbert geweiht. Heute wird er aufwendig saniert.
Eine neue Kirche für eine neue Zeit: Vor gut fünfzig Jahren wurde der Mariendom in Neviges bei Velbert geweiht. Heute wird er aufwendig saniert.© Foto: Erich Dorau
Aus dem Archiv anlässlich des Todes des Architekten Gottfried Böhm (* 23. Januar 1920 in Offenbach am Main; † 9. Juni 2021 in Köln)

Peter Böhm steht vor der Wallfahrtskirche in Neviges und sinniert, was wohl seinen Vater zu diesem expressiven Sakralbau geführt haben mag. Immerhin hat der Mariendom am Rand des Bergischen Landes Gottfried Böhm auf einen Schlag weltberühmt gemacht, und die Kirche in dem Vorort des rheinischen Velbert gilt seither als die bekannteste in der modernen Sakralarchitektur Deutschlands. Gottfried Böhm, so berichtet Sohn Peter, habe damals Orientierung bei seinem Vater Dominikus gesucht, der immer wieder betonte: „Ich baue, was ich glaube.“

Gottfried Böhm spürte bereits als junger Architekt, dass der Kirchenbau große Herausforderungen stellt. „Mein Vater hatte schon früh den Willen, den Glauben in Form auszudrücken“, so Peter Böhm. Das zeigte sich unmittelbar nach dem Krieg, als er die „Madonna in den Trümmern“ in der durch Bomben zerstörten Kölner Kolumbakirche barg und um sie herum eine kleine Kapelle errichtete. Das Überleben der „Trümmermadonna“ grenzte für die Kölner an ein Wunder. Die Kirche in der Nähe des Doms wurde zwar schwer beschädigt, doch die spätgotische Madonna blieb unversehrt. Diese Situation brachte Gottfried Böhm mit dem Entwurf für eine schützende Kapelle zum Ausdruck: „Er spannte ein Dach über der erhalten gebliebenen Mauerecke der Kapelle, so als wollte er ein Zelttuch über die Madonna spannen. Dieses Bild steht für das Überleben in der Not. Mein Vater wollte die Kolumbakapelle als etwas Kostbares gestalten.“

Der 29-jährige Gottfried Böhm dachte an eine Gewebedecke, die er wie eine Zeltformation über das Mauerwerk der Kapelle spannen wollte. Die Kapelle war schlechthin revolutionär und bestätigt die These des Aachener Architekturhistorikers Manfred Speidel, dass „der Kirchenbau in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ein einzigartiges architektonisches Experimentierfeld war“. Aus Sicht Gottfried Böhms waren „Trümmermadonna“ und Kolumbakapelle, die den zerstörten Turm der Kolumbakirche einbeziehen sollte, ein Mahnmal gegen die Zerstörung, gleichzeitig aber auch ein architektonisches Zeichen für Hoffnung und Überleben. Der einstige Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer hielt dagegen wenig von diesen architektonischen Experimenten. Er distanzierte sich davon, kriegsbeschädigte Gebäude zu erhalten und sie in Neubauten zu integrieren. Und trotzdem gab es in den Kölner Nachkriegsjahren etliche gelungene Versuche für diese Art des Wiederaufbaus. Gottfried Böhm gehörte damals zur jungen Architektengeneration, die nach den Erfahrungen einer ideologisch verbrämten, letztlich größenwahnsinnigen NS-Architektur fürs „Dritte Reich“ und nach den Bombenschäden des Krieges eine Architektur suchte, die für einen Prozess der Heilung einstand.

In diesen Jahren arbeitete Gottfried Böhm zusammen mit seinem Vater Dominikus, der als Architekt noch für Kaiserreich, Weimarer Republik und „Drittes Reich“ tätig war und der damals als letzter Nationalarchitekt Deutschlands galt. Dominikus hatte, ganz im Trend seiner Zeit, eine Vorliebe für den sakralen Monumentalbau aus Stein. Doch nachdem der Familienpatriarch gestorben war, schlug Sohn Gottfried andere Wege ein. Viele seiner Nachkriegskirchen, die er in den Neubausiedlungen der rheinischen Groß- und Kleinstädte errichtete, orientierten sich an der klaren Formgebung der Bauhaus-Architektur, die damals durch Walter Gropius in der neuen Bundesrepublik noch großen Einfluss genoss.

„Zahlreiche seiner Sakralbauten entstanden in den neu errichteten Wohnsiedlungen von Düsseldorf-Lichtenbroich, Neuss-Gnadenthal, Velbert oder Grevenbroich. Damals gab es großen Bedarf“, meint Peter Böhm. Es war eine Zeit, als der Sakralbau die Architekten zum beinahe grenzenlosen Experimentieren einlud, da sie, frei von strengen funktionalen Zwängen, die neuen architektonischen Tendenzen erproben konnten. Den jungen rheinischen Architekten um Gottfried Böhm, Paul Schneider-Esleben oder Josef Lehmbrock kam zugute, dass in der Nachkriegszeit nicht nur viele Wohnbauten, sondern auch viele Kirchen errichtet werden mussten. Denn wegen der zahlreichen Vertriebenen aus den östlichen Landesteilen und der damit einhergehenden Wohnungsnot musste der Bedarf an preiswerten und schnell zu errichtenden Wohnungen, aber auch an Sakralbauten gedeckt werden.

Kaum eine moderne Kirche in Deutschland ist derart markant und aufsehenerregend – und entsprechend umstritten.
Kaum eine moderne Kirche in Deutschland ist derart markant und aufsehenerregend – und entsprechend umstritten.© Foto: picture-alliance /Archiv

Es erscheint heute überraschend, dass unter experimentierfreudigen Architekten ausgerechnet das Erzbistum Köln äußerst beliebt war. Das war aber keineswegs ein Zufall, denn Dombaumeister Willy Weyres und Erzdiözesanbaumeister Wilhelm Schlombs förderten die modernen Architekturtendenzen tatkräftig. So unterstützte die Erzdiözese sogar Anfang der sechziger Jahre den Neubau der im Krieg zerstörten neogotischen Kirche Sankt Marien im japanischen Tokio. Den entsprechenden Wettbewerb gewann Kenzo Tange, der an dem ursprünglichen Standort ein verwegen-technologisches Wunderwerk auf kreuzförmigem Grundriss errichtete: einen Neubau im glitzernden Stahlmantel. Die Hülle verkleidet zwölf Zentimeter dicke unverputzte Betonschalen, die den Kirchenraum höhlenartig erscheinen lassen. Wilhelm Schlombs plante gemeinsam mit der Erzdiözese Tokio den Bau der neuen Kirche. Diese offene Kirchenpolitik hing maßgeblich mit Kardinal Josef Frings zusammen, der mit seiner Erlaubnis des Mundraubs in der Not – bekannt geworden als „Fringsen“ – die Herzen der Kölner für sich gewonnen hatte.

Als die CDU 1957 mit dem Wahlslogan „Keine Experimente“ in den Bundestagswahlkampf zog, spürte jeder, dass Deutschland von einer Politik der sozialen Stagnation erfasst war. Kanzler Konrad Adenauer sah die abendländischen Werte in Gefahr und prophezeite bei einem Sieg der SPD den „Untergang Deutschlands“. Im katholischen Köln, das vor dem Krieg von Oberbürgermeister Adenauer regiert wurde, war man deutlich gelassener. „Dass mit dem Kirchen-Boom auch zahlreiche moderne Sakralbauten entstanden, wurde toleriert und passte zum lebendigen Geist, der sich im kulturellen Bereich zeigte“, erinnert sich Peter Böhm. Das merkte man auch andernorts. So etablierten sich Anfang der fünfziger Jahre etwa die legendären „Darmstädter Gespräche“, die Gelegenheit boten, lebhaft über neue Ideen in Architektur, Kunst und Philosophie zu streiten.

Auch Papst Johannes XXIII. rief zur pastoralen und ökumenischen Instauratio, zur Erneuerung, auf, wodurch sich die Kirche gegenüber dem Wandel in der modernen Welt zu öffnen begann. Ein Aggiornamento, ein Heutigwerden, solle die Traditionskirche verjüngen und vom schweren historischen Ballast befreien. „Diese Zeitumstände hatten großen Einfluss auf meinen Vater und auf die Entwicklung seiner Architektur, besonders nachdem er 1963 an der Rheinisch-Westfälisch-Technischen Hochschule Aachen den Lehrstuhl für Werklehre übernommen hatte. Er war von der gesellschaftlichen Entwicklung, die ihren Ausgang beim Vatikanischen Konzil nahm, fasziniert. Doch als Architekt bestand er immer auf seiner eigenen künstlerischen Position“, erinnert sich Peter Böhm. Gottfried, der neben seinem Architekturstudium an der TU München auch einen Studiengang in Bildhauerei an der Kunstakademie absolviert hatte, entwickelte nach dem Krieg ein großes Gespür für architektonische Formexperimente. „Darin folgte er seinem Vater Dominikus, dessen Repertoire von historisierenden bis hin zu ganz freien Formen reichte.“

Kenzo Tanges Sankt Marien im fernen Tokio war noch nicht fertiggestellt, als im bergischen Velbert-Neviges ein Architekturwettbewerb für die „Wallfahrtskirche Maria – Königin des Friedens“ ausgelobt wurde, an dem siebzehn Architekten teilnahmen. Die Wallfahrt hat in Neviges eine Tradition, die bis ins späte 17. Jahrhundert zurückreicht, als ein Franziskanermönch beim Gebet eine Marienerscheinung hatte. Die Muttergottes soll ihm befohlen haben, ihr Abbild nach Neviges zu tragen und dort zu verehren. Die Wahl des Ortes hatte einen triftigen Grund. Das Bergische Land war seit der Reformation protestantisch, doch seit Errichtung einer Wallfahrtskirche konnte sich die katholische Kirche in der Region behaupten und die Marienwallfahrt zu einer Massenveranstaltung machen.

Das Preisgericht des Architekturwettbewerbs tagte unter dem Vorsitz von Dombaumeister Willy Weyres, der große persönliche Sympathien etwa für Mies van der Rohes Universitätskapelle in Chicago und Le Corbusiers Wallfahrtskapelle in Ronchamps hatte. Weyres war sich darüber im Klaren, dass die Kloster-, Pfarr- und Wallfahrtskirche, die Franziskanermönche im frühen 18. Jahrhundert gebaut hatten, nicht mehr zeitgemäß war. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hatte es immer wieder Entwürfe für eine neue Kirche gegeben. Noch 1958 fiel der traditionalistische Entwurf eines Wiesbadener Architekten beim modernistisch gesinnten Generalvikariat in Ungnade.

1959 stand die Entscheidung der Erzdiözese fest, im kleinen Neviges den – neben dem Kölner Dom – größten Sakralbau im gesamten Erzbistum zu errichten. Als sich die Wettbewerbsjury schließlich im Juli 1963 traf, stand der Katholizismus noch auf festem Grund. In jenem Jahr konnte man in Neviges, der wichtigsten Wallfahrtsstätte in der Diözese, mit knapp 180000 Pilgern rechnen. Deswegen sah das Raumprogramm des Neubaus 900 Sitzplätze sowie 2000 bis 3000 Stehplätze vor. Etwas enttäuschend fiel allerdings der angestrebte internationale Zuschnitt des Wettbewerbs aus, denn fast alle Mitstreiter stammten aus der Kölner Erzdiözese, zumeist aus Düsseldorf oder Köln.

Leuchtkraft: Die Kirchenfenster von Neviges wurden ebenfalls von Gottfried Böhm entworfen. Zentral ist das Motiv der Rose, weil es im Gnadenbild vorkommt.
Leuchtkraft: Die Kirchenfenster von Neviges wurden ebenfalls von Gottfried Böhm entworfen. Zentral ist das Motiv der Rose, weil es im Gnadenbild vorkommt.© Fotos: KNA-Bild
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© Fotos: KNA-Bild

Das Preisgericht kürte schließlich einen Überraschungssieger, dessen Name heute in Vergessenheit geraten ist. Es war der Kölner Architekt Kurt Faber, der einen schlichten quaderförmigen Baukörper entwarf. Der Protokollführer vermerkte, dass der Entwurf an eine „Fabrikhalle mit Sheddach“ (Sägezahndach) erinnere. Der Beitrag des zweiten Preisträgers, Jürgen Schürmann, war deutlich komplexer: Er orientierte sich an der zeitgenössischen niederländischen Architektur und stellte sich die Kirche als terrassierte Berglandschaft vor, bestehend aus sechseckigen Prismen. Auch das vom Düsseldorfer Josef Lehmbrock entworfene Zeltdach, gesetzt auf einen quadratischen Flachbau, gehört zum architektonischen Formrepertoire der Nachkriegszeit. Gottfried Böhms Entwurf weckte anfangs große Zustimmung, besonders wegen der Lage der Pilgerwohnungen und des Prozessionswegs. Der Protokollant vermerkte: „Schon eine gute Idee! Dann aber der Pferdefuß: Kosten von über 22 Millionen DM!“ Sein Resümee: „So ist der Plan ein für alle Mal zunichte.“

Doch es kam anders. Die Preisrichter hatten die Rechnung ohne den Bauherrn gemacht. Peter Böhm erinnert sich: „Der bereits halbblinde Kardinal Frings bestand darauf, das Siegermodell nochmals zu begutachten. Das Resultat war ernüchternd.“ Der Kardinal urteilte, das Modell von Faber sei eines Mariendoms unwürdig. Erzdiözesanbaumeister und Jurymitglied Wilhelm Schlombs protokollierte im September 1963 eine Audienz bei Frings: „Das Ergebnis des Wettbewerbs hat Eminenz enttäuscht, da noch keine Lösung gefunden ist, die als plastischer Baukörper beziehungsweise als Bild und Zeichen einer Wallfahrtskirche befriedigt. Eminenz erklärte, unter diesen Gesichtspunkten sich nicht für die Durchführung eines Entwurfs entschließen zu können.“ Offenbar waren sich der architekturbegeisterte Frings und Schlombs einig, dass man keinesfalls hinter die „außergewöhnliche“ Qualität des Mariendoms in Tokio zurückfallen dürfe. Für den Kölner Erzbischof war gute Baukunst Ausdruck göttlicher Schöpferkraft. Er sah sich der göttlichen Eingebung am nächsten und als letzte irdische Instanz in Gestaltungsfragen.

Kardinal Frings bestand darauf, eine zweite Wettbewerbsrunde auszurichten und fünf Architekten zu bitten, ihre Entwürfe zu überarbeiten. Darunter befanden sich Josef Lehmbrock und Gottfried Böhm. Als die Juroren im März 1964 wieder zusammenkamen, dachten sie zunächst, Böhm habe einen völlig neuen Entwurf ausgearbeitet. Tatsächlich hatte er an seinem ursprünglichen Entwurf aber nur wenig geändert. Besonders der zum Mariendom hinaufführende Pilgerweg – die Via Sacra – hatte es den Preisrichtern jetzt angetan. Man war sich einig, endlich eine würdige Gestalt für den Mariendom gefunden zu haben. Das letzte Wort sollte freilich wieder der Kardinal haben. Frings, der das Modell ertasten musste, gefiel nicht nur der plastische Baukörper, sondern auch die räumliche Inszenierung der Wallfahrt, der leicht ansteigende Pilgerweg, der an den Zellen der Pilger entlangführt. Wallfahrt wurde so für ihn erlebbar als sinnliches Erlebnis. „Die Legende besagt, Kardinal Frings habe das Modell meines Vaters am besten ertasten und verstehen können. Offenbar strahlte das Modell die größte Erhabenheit aus“, so Peter Böhm.

Wallfahrt als sinnliches Erlebnis. Der Mariendom steht am Ende des leicht ansteigenden Pilgerwegs in Neviges.
Wallfahrt als sinnliches Erlebnis. Der Mariendom steht am Ende des leicht ansteigenden Pilgerwegs in Neviges.© Foto: Englert

Tatsächlich kommt Böhms Mariendom dem Vorbild mittelalterlicher Stadtkronen – Zeichen der kirchlichen Macht im Stadtraum – am nächsten. „Mein Vater ließ sich nicht von den modernen Stadtsilhouetten beeindrucken, in denen sich Banken und Versicherungen abdrücken. Er dachte vielmehr an das, was unsere Gemeinschaft zusammenhält, er dachte an die Menschen, die in diesen Gebäuden leben.“ Böhm ließ sich von der gemeinschaftsstiftenden Kraft bedeutender Bauwerke inspirieren. Und Kardinal Frings war auf der Suche nach einem herausragenden Sakralbau, der die Möglichkeit bot, durch seine architektonische Anziehungskraft die damals schon zurückgehenden Pilgerzahlen auszugleichen.

Im März 1964 ging Gottfried Böhm als Sieger aus dem Wettbewerb hervor, und bereits im Juni erfolgte die offizielle Beauftragung. Wenig später kam besonders unter den Protestanten in Neviges die Rede vom „Betonfelsen“ auf. Zwar war auch immer wieder „Zelt“ und „Burg“ zu hören, aber der spöttische Name „Betonfelsen“ setzte sich durch. Gottfried Böhm konnte sich mit der Redeweise anfreunden, beschrieb sie doch ungewollt seine Absicht, die Wallfahrtskirche den natürlichen Formationen des Bergischen Landes anzupassen. Die Pilger sollten die gepflasterte Anhöhe hinaufsteigen, um dann in nahtloser Fortsetzung den vielkantigen Innenraum zu betreten, in dem sich die gleichen Pflastersteine wie auf dem Pilgerweg fanden. Tatsächlich sieht es im Innern aus wie auf einem städtischen Platz. Der Raum ist umstellt von hoch aufragenden, schlichten Leuchten, die an gewöhnliche Straßenlaternen erinnern. Und über dem Altarraum wölbt sich das gefaltete Betondach in die Höhe. Gottfried Böhm schwebte ein dunkler und schlichter Kirchenraum vor – nichts sollte die Gläubigen von der inneren Einkehr ablenken. Verbaut wurden in den folgenden Jahren 7500 Tonnen Beton und 510 Tonnen Bewehrungseisen. In den sechziger Jahren war eine derartige Leistung – ohne hochentwickelte Computertechnik – schlechthin revolutionär.

Eine große Stadt ersteht. Auch im Innern stellt sich ein besonderes Raumgefühl ein. Neviges ist nach dem Kölner Dom die zweitgrößte Kirche im Erzbistum Köln.
Eine große Stadt ersteht. Auch im Innern stellt sich ein besonderes Raumgefühl ein. Neviges ist nach dem Kölner Dom die zweitgrößte Kirche im Erzbistum Köln.© Foto: KNA-Bild

Gottfried Böhms Wallfahrtskirche ist ein Gesamtkunstwerk, in dem der Architekt die Phantasien der expressionistischen „Gläsernen Kette“ um Bruno Taut, Walter Gropius und Hans Scharoun weiterdachte. Das zeigt sich an den dynamisch gestalteten Emporen, dem fast unscheinbaren gerasterten Portal, den selbst entworfenen Stuhlreihen und farbigen Fenstermosaiken.

Peter Böhm erinnert sich an die Zeit, als die Kirche im Mai 1968 vom chinesischen Weihbischof Vitus Chang geweiht wurde: „Das war eine aufgewühlte, bewegte Zeit. Es war die Hochphase der Studentenrevolution, die bei meinem Vater deutliche Spuren hinterlassen hat. Rein äußerlich zeigte sich das an Namen wie Gandhi und Che Guevara, die er auf dem Pilgerweg verewigte.“ Bei Gottfried Böhm schlug sich die Forderung nach mehr Demokratie und Bürgerbeteiligung in der Gestaltung des Kirchenraums nieder. Man könnte meinen, die Gläubigen kämen auf einem offenen Marktplatz zusammen. Zudem gab Böhm die frontal zum Altar aufgebauten Sitzreihen auf und gruppierte sie um ihn herum. Er fand sich damit nicht nur im Einklang mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, sondern auch mit den rebellischen Studierenden, die mehr gesellschaftliche Teilhabe forderten. „Mein Vater wollte, dass in Neviges die Menschen im Mittelpunkt stehen. Als ich mit ihm an der Eidgenössisch-Technischen Hochschule Zürich einen Vortrag über sakrale Kunst hielt, kam er auf das Gemeinschaftsstiftende der Religion zu sprechen. ‚Das Sakrale‘, sagte er, ‚hat mich nicht interessiert‘.“

Der Mariendom, ein Faltwerk aus Stahlbeton ohne äußere Abdichtung und Dacheindeckung, war von Beginn an, wie Peter Böhm eingesteht, konstruktiv eine Herausforderung. Problematisch waren die unterschiedlich geneigten Flächen, Kanten und Kehlen. Die Decke wurde zwar zweischalig aus wasserundurchlässigem Beton mit einer dazwischen liegenden Kunststofffolienabdichtung konstruiert, doch bei den restlichen Dachteilen entschied sich Gottfried Böhm für eine einschalige Ausführung. Das erwies sich als verhängnisvoll, denn bereits nach wenigen Jahren entstanden erste Feuchtigkeitsschäden, verursacht durch Risse im Stahlbetondach. Durch sie drang Wasser ins Innere der Kirche. Betroffen waren vor allem die Übergänge von Wand zu Dach und kompliziert gestaltete Eckbereiche. „Es entstanden Schäden an den Arbeits- und Bewegungsfugen, zudem gab es Dehnungsrisse durch die thermische Belastung des Baukörpers, der großen Spannungen ausgesetzt ist.“

Beton hält ewig? Längst zeigen sich die Spuren der Zeit am Mariendom. Architekt Peter Böhm leitet die Sanierung.
Beton hält ewig? Längst zeigen sich die Spuren der Zeit am Mariendom. Architekt Peter Böhm leitet die Sanierung.© Foto: Englert

 

© Foto: Englert
Die erste Instandsetzung begann bereits Ende der achtziger Jahre, als man beschloss, auf die Dachkonstruktion eine flächige Epoxidharzschicht aufzutragen. „Die erwies sich als sehr hässlich“, kritisiert Peter Böhm. „Außerdem stellte sich im Lauf der Jahre heraus, dass diese Schicht zu starr ist und so an vielen Stellen weitere Risse auftraten.“

 

Als die Situation zunehmend bedrohlich wurde, beauftragte Erzdiözesanbaumeister Martin Struck eine Expertenkommission unter Leitung von Peter Böhm, eine nachhaltige Dachrenovierung zu erkunden. Böhm gelang es, neue Verfahren anzuwenden, die vom Institut für Bauforschung der Technischen Hochschule Aachen und einer Arbeitsgruppe der TU Dresden entwickelt worden waren. Man entfernte die Harzschicht und setzte den Stahlbeton instand. Der letzte Arbeitsschritt bestand darin, carbonfaserverstärkten Spritzmörtel aufzutragen, um das Dach dauerhaft abzudichten. Es wurde eine 28 Milimeter dicke Mörtelschutzschicht gewählt, die im Zwischenbereich eine textile Bewehrung aus Carbon aufwies. Durch diese Methode hoffte man, die Auswirkung der Betonrisse durch die Schutzschicht aufzufangen. „Nach der Renovierung soll die optische Erscheinung dem ursprünglichen Zustand entsprechen, der wesentlich heller war. Der neu entwickelte Textilbeton kam uns wie gerufen. Er besteht aus Hochleistungszement und Carbongewebeeinlagen. Mit dem Textilbeton, der sich als sehr leistungsfähig und wasserabweisend herausstellte, können wir sehr dünne Schichten mit extremer Stabilität herstellen.“

Auf einer Teilfläche konnte das neue Verfahren erfolgreich getestet werden. Die weiteren Maßnahmen für die 800 Quadratmeter des zweiten Bauabschnitts dürften zeitnah abgeschlossen werden. Dann sind auch erst einmal die Gelder, die sich Erzdiözese, Stiftung Denkmalschutz, Wüstenrot-Stiftung und Staatsministerium für Kultur teilen, aufgebraucht. Martin Struck meint, dass die weitere Instandsetzung an einer Restfläche von etwa 1500 Quadratmetern weitere zwei Jahre dauern dürfte. Doch genau lässt sich das momentan nicht sagen, da die Finanzierung noch nicht gesichert ist. Experiment und Baustelle Mariendom Neviges gehen also weiter.

Bevor die Mariendom-Renovierung endgültig als geglückt gelten darf, wird eine fast 340 Jahre währende Tradition zu Ende gegangen sein: Die demografische Auszehrung der Ordensgemeinschaften hat jetzt auch die Franziskaner in Neviges eingeholt, die bis heute die Wallfahrer betreut haben. Auch ihre Zeit ist vorbei. Sieben Franziskaner halten noch den „Betonfelsen“. Ende Januar 2020 werden auch sie ihre Stellung im Bergischen Land aufgegeben haben.

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