Vier Beispiele der letzten Jahre zeigen unterschiedliche Vorstellungen von dem, was der Altar und die Feier an ihm heute bedeuten. Sie stammen aus zwei katholischen beziehungsweise zwei evangelischen Kirchen und wurden von Künstlern beider Konfessionen gestaltet.
Radikal einfach ist die Altarplatte in der evangelischen Christuskirche in Nürnberg von Meide Büdel (Foto links): Eine Stahlplatte hängt an vier Stahlseilen aus der enormen Höhe des 1957 erbauten Kirchenraumes herunter. Das Buch, das darauf liegt, das Abendmahlsgerät, das darauf gestellt wird, die Schrift und die Feier an dieser schwebenden Platte erscheinen als Geschenk von oben, weniger von Menschen veranstaltet als von Gott geschenkt. Die anthrazitfarbene Brüstung dahinter bildet die Tribüne für die Wortverkündigung und optisch zugleich den Sockel für die helle Farbbahn, die zu der großen Messingfigur des wiederkehrenden Christus von Burch-Corrodi (1957) führt. Die schwebende Stahlplatte mit der Bibel ist beispielhafter „Tisch des Wortes“, ein Ausdruck, der von katholischen Theologen oft für Lesepulte gebraucht wird.
Auch der Altar von Susanne Wagner in Sankt Petrus Canisius in Friedrichshafen setzt sich mit einem älteren Raum und einem hoch aufgehängten Christuskorpus von 1928 auseinander (Foto unten rechts). Aber die Bewegung geht hier von unten aus: Sieben weiße keramische Platten, unterschiedlich gekrümmt, bäumen sich vom Boden her auf, bis sie in einer waagrecht liegenden stärkeren Platte zur Ruhe kommen. Der Altar erhebt sich zu Gott, mühevoll, immer wieder, und das in feierlicher Schönheit wie das Seufzen der Schöpfung und der Kinder Gottes nach Erlösung (Röm 8,22).
Ebenfalls mehrschichtig und durchsichtig ist der Altar, den Sabine Straub für die Pauluskirche in Balingen-Frommern gestaltet hat (Foto Mitte). Unter der quadratischen horizontalen Platte biegen sich wie Buchseiten Platten aus bruniertem Stahl mit Ölvergoldung. Sie bringen den Tisch zum Leuchten und zum Schweben, deuten an, dass sich hier etwas ereignet, das nicht ganz von dieser Welt ist, ein quasi überirdisches Design, Industrieform mit Durchblick in die Transzendenz.
Im Vergleich steht der Altar in der Annakirche in Augsburg ganz einfach da (großes Foto auf der rechten Seite). Diese ehemalige Karmelitenklosterkirche ist seit 1534 die evangelische Hauptkirche und „die feste Burg des Protestantismus in Augsburg“. So stellt sich die Gemeinde auf ihrer Homepage vor. Da Sankt Anna als Kirche eines Eremitenordens gebaut wurde, brauchte sie keinen Eingang von der Straße aus. Sie wird nur vom Claustrum, dem abgeschlossenen vierflügeligen Kreuzgang, von der Südseite her betreten. Und dann bietet sich ein merkwürdiges Bild. Im Westen, wo man bei einer geosteten Kirche den Eingang erwartet, schließt die Grabkapelle von Georg, Jakob und Ulrich Fugger den Raum. Sie ist mit ihrer Bauzeit von 1509 bis 1518 und ihren aus Venedig importierten Formen das erste Werk der Renaissance nördlich der Alpen – und das dank der Mitwirkung von Albrecht Dürer, Gregor Erhard, Hans Daucher, Jörg Breu und Sebastian Loscher auf höchstem Niveau. Im Osten sieht man unter einem Emporenbogen hindurch ein neugotisches Altarretabel mit Gemälden von Lukas Cranach. Die Hauptsache aber scheint in der Mitte des Mittelschiffs die barocke Kanzel zu sein, Nussbaumholz mit vergoldeten Ornamenten und dem großen Schalldeckel mit dem Posaunenengel von Heinrich Eichler (1682/83). Auf sie sind auch die Emporen ausgerichtet. Unter der Kanzel stand ein provisorischer Altar. Dieser wurde 2013 ersetzt durch ein Werk des Künstlerpaares Lutzenberger & Lutzenberger aus Bad Wörishofen. Der neue Altar soll den Wert der Abendmahlsfeier oder des Brotbrechens, wie die Apostelgeschichte sagt, mit den Mitteln unserer Zeit darstellen. Dabei darf er den historischen Raum nicht konterkarieren, wohl kontrastieren, aber das nur ohne ästhetischen Bruch. Der Lutzenberger Altar hat eine Farbe: rot.
Das dunkle, bräunliche, in sich modulierte Rot des Altars in Sankt Anna überbietet alle Farben im Raum. Das Rot der Marmorsäulen und Pilaster, den dunklen Holzton der Kanzel und der Emporenbrüstungen und das Rosa in der Deckenmalerei, konzentriert sie in der Mitte, auf dem Boden der Gemeinde, und zeigt an: Was hier geschieht, das Brotbrechen, ist die Mitte des christlichen Gottesdienstes.
Der Lutzenberger Altar hat nicht nur eine Farbe, sondern auch eine Form: die eines liegenden Kreuzes. Damit nimmt er die Richtungen beziehungsweise den Richtungswechsel in dieser Kirche auf. Die Sankt-Anna-Kirche hat nach dem Langhaus, das dem Sonnenaufgang entgegengebaut ist, einen langen Chorraum, in dem sich die Karmeliten zum Chorgebet siebenmal am Tag versammeln konnten. Der Altar in der Mitte ist aus Wachs gegossen. Das Kunstwachs, ein Feingusswachs, bestehend aus organischen Fetten, das die Lutzenbergers gewählt haben, fühlt sich warm an und ist verletzlich. Sie haben die gelieferten Wachspellets in großen Kesseln bis zur Flüssigkeit erhitzt, das rote Pigment eingemischt und durch einen Gusskanal in die Kreuzesform gegossen. Wie beim Metallguss war die Form gestürzt, also das Oberste zuunterst. Beim Gießen kühlt das Wachs ab. Wo es am wärmsten ankam, blieb es dunkler. Darum erscheint heute in der Mitte der Altaroberfläche eine dunklere runde Form, einer Rose oder einem Sternennebel vergleichbar. Auch in den Seitenflächen wirkt das Rot nicht uniform, sondern in sich moduliert, wie das Braun der Edelhölzer an Kanzel und Emporen mit seinen Wachstumsspuren. Das feierliche dunkle Rot des Kreuzes erhält in diesem weichen, warmen Material eine neue Qualität, es wirkt lebendig, kostbar, zart. Die Römer schrieben mit spitzen Knochen, Hölzern oder Bronzenadeln auf Wachstafeln und konnten den Text mit dem warmen Handballen wieder löschen. Ähnlich lassen sich Kratzer und Ritzungen im Wachsaltar löschen. Aber er bleibt empfindlich, empfänglich für Spuren aller, die ihn berühren.
Auch der Ambo ist aus dem roten Wachs gegossen, in ähnlich kubischer Form wie der Altar, aber als stehender Körper, als bedeutungsschweres Zeichen für das von ihm verkündete Wort Gottes. Die beiden roten Wachskörper, der stehende und der liegende, korrespondieren im Raum, steigern sich in ihrer Bedeutung als plastische Objekte. Aber was geschieht an ihm?
Die Christen haben in ihren ersten großen Versammlungsräumen ein Möbel oder einen Einbau erfunden, den Ambo, auf den der Redner stieg, um über die Schultern und Köpfe aller hinweg zu allen zu sprechen, von allen gehört und gesehen zu werden. Das Wort Ambo wird auf zweifache Weise erklärt: aus dem Griechischen von anabein, „hinaufsteigen“, oder aus dem Lateinischen von ambo, „beide“, weil in den meisten Kirchen zwei davon vorhanden waren. Der Ambo in Sankt Anna ist, wie in den meisten neu eingerichteten katholischen und evangelischen Kirchen, keines von beiden, weder zum Hinaufsteigen noch zweifach vorhanden. Er ist in großen Gemeinden, weil er dem Hörerlebnis das Seherlebnis verweigert, unsinnlich, Zeugnis einer Verweigerung der Sinnlichkeit, die unsere Zivilisation seit Jahrhunderten, und das in zunehmendem Maß, kennzeichnet. Der Ambo neben dem Altar bezeichnet hier wie in den meisten neueren Kirchen eine Aporie.
Wir Christen, Katholiken wie Protestanten, haben die ideale Ordnung, das richtige Zueinander von Verkündigung, also Lesung, Rede, Zuhören, Singen, und der Feier des Abendmahls noch nicht gefunden. Wir können uns nicht entscheiden, ob unsere Kirchen Hörsäle, Konzertsäle oder Speiseräume sein sollen, ob sie für ein Erinnerungsmahl der Gemeinde oder für die Belehrung durch einen Theologen gebaut sind. Wir haben die richtige Kirche immer noch nicht gebaut, zwar sehr viele sehr schöne, erhebende, ergreifende, sinnliche Zeugnisse unseres Glaubens, unseres Kultes. Aber noch keine, die vollkommen den Charakter unserer Feier widerspiegelt, den wir immer neu verstehen. Den für unsere Feier idealen Raum müssen wir weiter suchen und zwar mit aller Kraft, denn Gott hat uns geboten, ihn zu lieben mit unserem ganzen Herzen, aus unserer ganzen Seele und mit unserer ganzen Kraft (Lk 7,27). Das Sehen und das Gestalten von Sichtbarem gehört zu den wesentlichen Kräften des Menschen. Wir können sie aus unserer Beziehung zu Gott nicht heraushalten, sondern müssen sie ganz einbringen, „mit aller Kraft“. Darum stellt der Kirchenbau den allerhöchsten Anspruch dar, einen eigentlich nicht erfüllbaren Anspruch. Nur das Schönste, das Höchste, das unsere Gestaltungskraft erreichen kann, genügt für den christlichen Gottesdienst. Der Lutzenberger Altar ist das Schönste, was ich mir in der Sankt-Anna-Kirche vorstellen kann, und darum das Richtige an dieser Stelle. Er ist eine Station unseres Weges, noch nicht das Ziel. Das ist uns erst in der Stadt des Himmels vor Augen gestellt, in der Offenbarung des Johannes, die Stadt, in der es keinen Tempel mehr braucht, denn ihr Tempel ist der Herr (Offb 21,22).
Die Beispiele wurden für die Ausstellung „Zusammenspiel, Kunst im sakralen Raum“ ausgewählt. Sie ist bis 13. Oktober in der Liebfrauenkirche Duisburg zu sehen, vom 30. Oktober bis 21. November dann im Kölner Maternushaus.