Wer war Jesus wirklich? Trotz vieler Publikationen dazu lohnt sich die stets neue Frage. Michael Wolters Buch ist leicht verständlich geschrieben, es setzt keine Fachkenntnisse voraus. Der evangelische Neutestamentler sensibilisiert für die bleibende Distanz zwischen Forschungsergebnissen und historischer Wirklichkeit und für die verschiedenen Perspektiven auf die Person Jesu. Wolter stellt die biblischen und außerbiblischen Quellen der Leben-Jesu-Forschung vor. Er nimmt die Leser mit in die Zeit um das Jahr Null: Angefangen bei seiner Herkunft, werden die einzelnen Etappen und Ereignisse im Leben Jesu bis hin zu seinem Tod und seiner posthumen Wirkung betrachtet. Dabei stellt der Verfasser unterschiedliche biblische Darstellungen der Ereignisse einander gegenüber. Er bezieht Erkenntnisse der Literar- und Textkritik mit ein und erklärt, was der Leser vom zeitgeschichtlichen Kontext wissen muss, um die historische Rekonstruktion nachvollziehen zu können.
Immer wieder fragt der Autor danach, wie Jesus über sich selbst und seine Zeit gedacht hat. Einerseits unterschied Jesus in seinem Selbstverständnis nicht zwischen sich und den anderen Menschen: So ist die Selbstbezeichnung „Menschensohn“, anders als die Bezeichnung „Messias“, kein Titel und auch nicht mit einer bestimmten Vorstellung verbunden, sondern sie betont schlichtweg das Menschsein Jesu. Auch in der Erwartung des Kommens Gottes auf die Erde und konkret nach Jerusalem unterschied sich Jesus nicht von anderen Juden seiner Zeit. In dieser Erwartung sieht Wolter auch Jesu Gang nach Jerusalem begründet. Auf der anderen Seite betont der Autor mehrmals, dass Jesus sein Handeln als Handeln Gottes verstand und manches auf sich bezog, was eigentlich Gott zugeschrieben wurde. Die Vergebung der Sünden, die Heilungen und Jesu Deutung derselben zeigen das. Wenn Jesus mit den Sündern isst, haben sie bereits Gemeinschaft mit Gott, und mit den Heilungen ist die Gottesherrschaft schon bei den Menschen angekommen. So deuten die Ergebnisse der historischen Rückfrage nach Jesus auf das spannungsvolle Geheimnis seiner menschlichen und göttlichen Natur hin. Louisa Austermann