Christen sind nicht nur Kinder Gottes, sondern auch Kinder ihrer Zeit.“ Mit einfachen Sätzen beschreibt der Kirchenhistoriker und Archäologe Hans Georg Thümmel ein weites Feld und einen dichten Wald von Denkmälern, Forschungen, Meinungen zur bildenden Kunst der Christen zwischen 260 und 600. Er legt eine Lehre von den Bildgegenständen mit ihrem Sitz im Leben vor, erschließt die Zusammenhänge mit Liturgie und Ort und erklärt die damit verbundenen Absichten und Ziele.
Thümmel sieht die christliche Kunst aus der „Grabeskunst“ um 260 in Rom entstanden. Er meint begründet, dass die Malereien in Katakomben und die Reliefs auf Sarkophagen nicht nur die ältesten erhaltenen Zeugnisse einer christlichen Bilderwelt sind, sondern auch ihr einziger Ursprung. An jüdische Vorbilder in Buch- oder Wandmalerei glaubt der Autor nicht. Die 256 von den Parthern zerstörte Synagoge und Kirche von Dura Europos am Euphrat mit ihren szenischen Wandmalereien hält er für einen Sonderfall. Nur knapp gestreift wird die Buchmalerei mit den Evangelistenbildern, die antike Autorenporträts weiterentwickeln. Die Verwandlung der ägyptischen Mumienporträts zur christlichen Ikone kommt nicht vor.
„Mythos ist ein Lügenwort, das Wahrheit bedeutet.“ Mit diesem Satz aus dem um 970 entstandenen „Byzantinischen Lexikon“, genannt „Suda“, beschließt der Autor sein Einführungskapitel über die philosophischen Deutungen von Mythen in der Spätantike. Figuren und Szenen aus Mythen, die auf Sarkophagen und in der Katakombenmalerei im dritten Jahrhundert begegnen, sind keine Göttergeschichten mehr, sondern Zeugnisse menschlicher Existenz. Aus Bildern von Hirten, Betenden, Philosophen, Flügelwesen, deren Deutung für Heidnisches und Christliches offen ist, treten nach 260 in Rom Jonas, Noe, Daniel, Susanna, die Jünglinge im Feuerofen als biblisch identifizierbare Gestalten heraus. Sie werden im „Libera“, dem Gebet für Verstorbene, seit dem Altertum genannt: „Befreie, Herr, die Seele deines Dieners, wie du befreit hast… Noe aus der Sintflut… Daniel aus der Löwengrube… Susanna aus dem falschen Gericht…“ In der Katakombenmalerei gehören die Rettungsbeispiele bis 340 zum gängigen Repertoire. Die Erweckung des Lazarus wurde um 300 als erste neutestamentliche Rettungsszene gebildet, andere Heilungswunder folgten. Sie sind in der auf Sarkophagfronten üblichen Reihung stehender Gestalten nicht immer leicht zu identifizieren, aber wenn eine ihr Bett auf dem Rücken trägt, eben doch genau bestimmbar (Mk 2,9). Hier tauchen die ersten Bilder auf, die eindeutig Christus, entweder bartlos jung oder alt mit Philosophenbart, zeigen.
Im Kapitel über die „frühchristliche Kirchdekoration“ ist der Vergleich erhaltener Kirchenmalerei in Rom, Neapel, Ravenna mit den von Paulinus von Nola (354–431) literarisch überlieferten Ausmalungen besonders wertvoll. Thümmel untersucht „Heidnisches und Christliches in der Staatssymbolik“ und behandelt auch kirchliches Inventar, soweit es Bilder trägt.
Die 126 hellgrau bis mittelgrau gedruckten Abbildungen erwecken Sehnsucht nach den Büchern des Botanikers und Fotografen Max Hirmer (zum Beispiel Wolfgang Fritz Volbach und Max Hirmer, „Frühchristliche Kunst“, 1958; oder Joachim Poeschke, „Mosaiken in Italien“, 2009; Poeschke wird von Thümmel in den Literaturhinweisen nicht erwähnt, aber Poeschke hat auch die älteren Publikationen von Thümmel übersehen). Wer die Originale oder andere Abbildungen kennt, den vermögen die grauen Schatten zu erinnern. Es ist nicht beides zu haben, ein altersweiser Text und ein marktgerechter Bilderdruck.
In einer Anmerkung (S. 242) schreibt Thümmel: „G. Steigerwald ist wohl der beste Kenner spätantiker Kleidung. Die Frage ist nur, ob die spätantiken Künstler ebenso gut darin bewandert waren.“ Diese Skepsis gegen zu genaue Festlegungen, vorgefasste Meinungen und psychologische Deutungen durchzieht das Buch. Der Autor plant Publikationen zur Bildkunst des Mittelalters, der Neuzeit und der Ostkirche. Peter B. Steiner