Kein außerbiblischer christlicher Text hat eine Karriere gemacht, die der der knappen Formeln vergleichbar wäre, die als Apostolisches/„Kleines“ und Nizäno-Konstantinopolitanisches/„Großes“ Glaubensbekenntnis spätestens seit dem fünften Jahrhundert unverändert vorliegen. Da sind ungezählte Linearkommentare wie der vorliegende, aber auch die vielen dogmatischen Kompendien, die sich meist an deren Gliederung und Inhalt orientieren. Jede Phrase hat sich als monografiewürdig herausgestellt. Bis hinein in die Kirchenmusik und die bildende Kunst (etwa Darstellungen der Entstehungslegende des Apostolikums) reicht ihre Wirkungsgeschichte. Sie sind auch die einzigen nichtkanonischen Texte, die bei Kirchen trotz der verschiedenen Bekenntnistraditionen gelten. Die spaltenden Kontroversen entzündeten sich in keinem Fall an ihnen, auch nicht am Zusatz „Filioque“ und der verschiedenen Wiedergabe von „catholica“ in der deutschen ökumenischen Fassung, sondern ausnahmslos an Aussagen, die nicht im Glaubensbekenntnis enthalten sind. Das betrifft unter anderem Kirchenverfassung, Amt, Gnadenlehre, Lehre vom Fegfeuer, die meisten Sakramente.
Warum bei solchem Überfluss noch ein neuer, ziemlich umfänglicher Kommentar? Weil der Christenglaube nicht eine Sammlung fein geschliffener Formeln in den kugelsicheren Glasvitrinen des christlichen Museums ist, sondern beansprucht, eine lebendige, von jeder Generation neu zu interpretierende, zu rezipierende und in die eigene Spiritualität zu integrierende Hinführung zum eigenen Heil zu sein.
Daraus ergeben sich die Koordinaten des Werkes: ein frei-befreiender Umgang mit der Lehrüberlieferung (Beispiele: Jungfrauenzeugung Jesu, Frauenordination); eine stete Verantwortung des Autors „vor den Anforderungen der Gegenwart“, die sich besonders aus der naturwissenschaftlich-technischen Ratio der Zeitgenossen ergeben (vor allem bei der Lehre vom Anfang, von der Erschaffung der Welt und der evolutiven creatio continua sowie bei der Eschatologie über das künftige Leben „nach“ dem Tod). Der Verfasser weiß wie schon Thomas von Aquin: Ein Irrtum hinsichtlich der Geschöpfe führt zu verheerenden Irrtümern über Gott. Wie das bisherige Werk Lükes bezeugt, besitzt er gerade hier eine besondere wissenschaftliche Autorität.
Lüke plädiert dafür, die ganze, unverstellte Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen, gerade auch im Vollzug des Glaubens. Das ist immer schwierig, hinsichtlich der Realität Gottes aber ganz besonders. Notwendig sind dazu: Diskussion der historischen Lösungsvorschläge, Vorlage der eigenen Hypothesen – und das ehrliche Eingeständnis der nicht zu verkürzenden, im Gegenteil mit der Mehrung des informativen Wissens steigenden Ignoranz, an der bereits Augustinus litt.
Aus umfassender Kenntnis des theologischen, philosophischen und profanwissenschaftlichen Wissensstandes wird eine breite Fülle einschlägigen Materials vorgestellt und behutsam gewertet. Man muss sicher nicht mit allen Thesen einverstanden sein (zum Beispiel mit der Analyse des Begriffs „Zeit“ oder der Deutung der Erbsündenlehre), aber man darf für den sanften Zwang dankbar sein, sich mit ihnen eingehend beschäftigen zu müssen. Nicht zuletzt dank seiner sprachlichen Kompetenz vermittelt Lüke einen faszinierenden Einblick in den Reichtum und die denkerische Fülle des biblisch begründeten Glaubens. Zugleich regt das Buch die eigenen Gedanken an, sich dessen für die eigene Existenz zu bedienen.
Man hätte es leichter und zöge mehr Nutzen aus der Darstellung, wenn Register den Zugang zu den Themen erleichterten, vornehmlich zu jenen, die in den Bekenntnisformeln nicht unmittelbar angesprochen werden, die aber für deren Verständnis zumindest hilfreich wären (Erörterung des Dogmenbegriffs, der Sündenlehre). Bei weiteren Auflagen sollte dieser doch gravierende Mangel korrigiert werden. Wolfgang Beinert