Wer in die Kirche geht mit der Erwartung, das Wort Gottes zu hören, einschließlich einer gut vorbereiteten Predigt zu den biblischen Texten, wird nicht selten enttäuscht. Oft werden diese nur stark verkürzt vorgetragen, wobei die alttestamentliche Lesung häufig wegfällt. Viele Prediger sprechen über das, was ihnen als mitteilungswürdig erscheint, nur nicht über das soeben Gehörte. Auslegungen, die nicht das „Anschlussfähige“ einer Bibelstelle herausstellen, sondern den Hörern das Sperrige, Unableitbare zumuten und so Gott selbst zu Wort kommen lassen, sind seltene Glücksmomente. Die Bibel ist nicht einfach barrierefrei. Wo sie stumm bleibt und das Signal ergeht, sie werde für die Verkündigung eigentlich nicht benötigt, so der Alttestamentler Egbert Ballhorn, grassiert bereits ein geistlicher Substanzverlust.
Einer, der seit Jahrzehnten gegen die Auszehrung ankämpft, ist der ehemalige Tübinger Neutestamentler Gerhard Lohfink. 1986 hatte er seinen Lehrstuhl aufgegeben, um in der Integrierten Gemeinde und ihrer Priestergemeinschaft zu leben und zu arbeiten. Das neueste Buch dreht sich um „Das Geheimnis des Galiläers. Ein Nachtgespräch über Jesus von Nazaret“. Dabei handelt es sich um ein Zwiegespräch zweier Menschen, das sich bis in den frühen Morgen hinzieht. Die Anordnung mag fiktiv sein, aber Lohfink legt Wert darauf, dass es die Gesprächspartner und ihre Themen nicht sind. „Unter vielen Namen gibt es sie an vielen Orten“ – seine treuen Leser.
Einer ist Herr Westerkamp aus Münster. Der hatte sich wegen des Wunsches seiner Tochter nach der Erstkommunion in vielen Briefen an den Theologen gewandt. Vom Glauben entfremdet, suchte er den intellektuell-reflektierten Zugang. Und so erschien in diesem Format Lohfinks vorletztes Buch „Der christliche Glaube, erklärt in 50 Briefen“ (2018). Auf der Durchreise nach Südtirol macht Westerkamp Station in München und trifft sich mit dem Theologen zu einem intensiven Austausch. Zum Glauben hat der Münsteraner zurückgefunden, doch er sucht nach Vertiefung, die sich den Fragen und Zweifeln stellt. Der Zwischenstopp gibt dazu Gelegenheit, denn auf den Tisch kommen Fragen zur Quellenzuverlässigkeit der biblischen Aussagen über Jesus, nach den provokanten Jesusworten oder der Funktion seiner Gleichnisse. Breiten Raum nehmen die „Spannungsbögen in der Verkündigung Jesu“ ein, also die vermeintliche Widersprüchlichkeit in der Verkündigung Jesu etwa zwischen Gericht und Barmherzigkeit. Alles läuft auf das Selbstverständnis Jesu und seiner Ankündigung der Reich-Gottes-Herrschaft hinaus. Wie zuverlässig aber sind die Evangelien, die von Jesu Reden und Handeln berichten?
Folglich beginnt das Gespräch mit der Beobachtung, dass viele theologische Bücher über Jesus den Eindruck nahelegen, Jesus habe vieles, wovon die Texte erzählen, nicht gesagt oder nicht getan. Es habe als nachträgliche Formung der christlichen Urgemeinde zu gelten. Lohfink nimmt diesen Ball seines Gesprächpartners auf: Theologie als Wissenschaft muss ausdrücklich alles anzweifeln können. Allerdings lege dieser Zweifel noch kein negatives Ergebnis in der Sache fest. Dass etwa alle Gerichtsworte Jesu als unecht zu gelten hätten, wie behauptet wurde, sei eher einer Voreingenommenheit geschuldet als einem wasserdichten exegetischen Befund.
Ohne historisch-kritische Bibelexegese geht es für den Glauben nicht, wenn er sich vor dem Forum der Vernunft zu rechtfertigen hat. Statt für einen verstehenswissenschaftlichen Zugang zu den Texten durch Misstrauen plädiert Lohfink für eine Hermeneutik des Vertrauens, die damit rechnet, dass auch Jesusworte, die von der Gemeinde zusammengestellt wurden, durchaus seinen Geist der Verkündigung bewahren. Ein Beispiel ist die Bergpredigt. Der rote Faden der Gewaltlosigkeit zieht sich durch das Leben und die Worte Jesu und beglaubigt damit die Bergpredigt, auch wenn sie stilistisch in der Version bei Matthäus so von Jesus in Teilen wahrscheinlich nicht gehalten wurde.
Im Zwiegespräch mit dem Theologen entpuppt sich der Gesprächspartner schnell als ein exegetisches Naturtalent. Mit seinem literarkritischen und formgeschichtlichen Spürsinn verblüfft er den Fachmann ein ums andere Mal. Das macht die Dialoge spannend und abwechslungsreich. Es gehört schon eine große Portion dramaturgisches Können dazu, die Zwiegespräche so zu strukturieren, dass sie den Theologen nicht zum allwissenden Erklärer und seinen Gesprächspartner nicht zum bloßen Stichwortgeber machen. Das Nachtgespräch ist ein echter Dialog, dem Exegeten wird dabei nichts geschenkt. Gerade die Rückfragen, Ergänzungen und Einsprüche machen die Lektüre auch zu einem faszinierenden intellektuellen Vergnügen.
Im Kapitel „Bekenntnis“ gibt Lohfink zudem einen kurzen, aber lesenswerten Einblick in seine persönliche Glaubensgeschichte. Zugleich macht er einmal mehr deutlich, dass Glauben und Theologie keine Gegensätze sind. Die Theologie braucht den Glauben, aber auch der Glaube braucht die Theologie. Dem Geheimnis Jesu näherkommen – Gerhard Lohfink ist dafür ein kundiger, verlässlicher und verständlicher Brückenbauer. Martin Schirmers