Das Erste Vatikanische Konzil hat vor 150 Jahren stattgefunden, aber noch immer wirkt es in das Leben der Kirche hinein. Die Papstdogmen, aber auch die Betonung von Autorität und Gehorsam sind ins kollektive Gedächtnis eingegangen. Das Konzil hat zwei dogmatische Konstitutionen verabschiedet. Die eine – „Pastor aeternus“ – hat den universalen Jurisdiktionsprimat, also die Vorrangstellung bei der Rechtsprechung, und die Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubens- und Sittenfragen definiert, die andere – „Dei Filius“ – hat sich zu Fragen von Glauben und Vernunft geäußert und ein Offenbarungsverständnis entwickelt, das man „instruktionstheoretisch“ genannt hat. Offenbarung wird hier als Übermittlung göttlicher Weisungen verstanden, die von den Gläubigen gehorsam aufzunehmen sind. Das hierarchische Kirchenverständnis mit der Autorität des Papstes als oberstem Hirten und Lehrer dient nach innen der Stabilisierung der Kirche und nach außen der Abwehr staatlicher Übergriffe sowie der Kritik moderner Autonomie- und Freiheitsbestrebungen. Die antimoderne Haltung sowie das hierarchische Kirchenverständnis sind bis heute wirksam.
Das ist zumindest die These, die Peter Neuner entfaltet. Um das Konzil besser zu verstehen, nimmt er zunächst den historischen Kontext in den Blick. Die dramatische Situation der Kirche nach der Französischen Revolution von 1789 wird ebenso beleuchtet wie die scharfe Ablehnung des neuzeitlichen Liberalismus und Rationalismus durch die Enzykliken von Papst Gregor VI. und Pius IX. Berühmt ist der „Syllabus errorum“, der achtzig Sätze als häretisch verwirft, darunter die Gewissens-, Presse- und Meinungsfreiheit. Die Reserve gegenüber dem modernen Freiheitsdenken setzt sich ab 1850 auch in der akademischen Theologie durch. Vielversprechende Ansätze, die sich kritisch-konstruktiv mit der Philosophie Kants, Schellings und Hegels auseinandersetzen, werden lehramtlich zensiert. Gefördert hingegen wird mit der Neuscholastik ein neuer Typ von Theologie, der die Entscheidungen des Lehramts verteidigt und dabei am Mittelalter und insbesondere am Denken des Thomas von Aquin Maß nimmt. Hinzu kommt die ultramontane Bewegung, die sich einen starken Papst wünscht, der die Freiheit der Kirche vor staatlichen Übergriffen schützt und so dem katholischen Milieu im Kulturkampf den Rücken stärkt. Die unversöhnliche Haltung gegenüber der Moderne lässt den evangelischen Theologen Ernst Troeltsch vom Katholizismus als einem „ungeheuren Fremdkörper in der modernen Welt“ sprechen.
Das Erste Vatikanische Konzil selbst ist allerdings besser als sein Ruf, wie Peter Neuner betont. Die Texte heben sich positiv ab von den vorbereiteten Entwürfen, die ganz dem Geist der Neuscholastik verpflichtet waren. Durch die Einsprüche der Minderheit gegen das Unfehlbarkeitsdogma konnten Bedingungen für eine Ex-cathedra-Entscheidung nachgetragen werden. Nicht alles, was der Papst von sich gibt, ist unfehlbar. Er muss als oberster Lehrer der Kirche – und nicht als Privatperson – sprechen. Er muss dogmatische Lehren formell als unfehlbare Entscheidungen ausweisen. Sie sind zudem an den Gegenstandsbereich von Glaube und Sitte gebunden und müssen in Übereinstimmung mit Schrift und Tradition stehen. Die umstrittene Spitzenaussage der Definition, dass der Papst „aus sich und ohne Zustimmung der Kirche“ (ex sese, non ex consensu ecclesiae) lehren könne, muss man vom historischen Kontext her verstehen. Sie will die Forderung des Gallikanismus oder Konziliarismus abwehren, welche die Gültigkeit päpstlicher Lehren an die Zustimmung der Bischöfe bindet.
Der Klerus lehrt, die Laien lernen
Das zweite Dokument verteidigt gegen Atheismus und Materialismus die natürliche Erkennbarkeit Gottes als Schöpfer. Dass Gott existiert, könne mit der Vernunft sicher erkannt werden. Was und wer Gott sei, das teile er dem Menschen durch Offenbarung mit. Das „instruktionstheoretische“ Offenbarungsverständnis bleibt an Begriffe wie Autorität und Gehorsam gebunden und erreicht nicht eine personal-dialogische Sicht, die Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes versteht, welche die Freiheit des Adressaten achtet. Auch bleibt der Glaubenssinn der Gläubigen, auf dessen Wichtigkeit John Henry Newman hingewiesen hat, eine Leerstelle. Die hörende Kirche sind die Laien. Sie haben zu befolgen, was die lehrende Kirche, der Klerus, sagt. Dass umgekehrt Bischöfe oder der Papst von einer Beratung der Laien lernen könnten, bleibt außen vor.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat hier neue Akzente gesetzt. Es hat die Kirche als wanderndes Gottesvolk verstanden und das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen betont – Akzente, die im Kapitel über die hierarchische Verfassung der Kirche kaum berücksichtigt wurden. Der Primat des Papstes wird hier zwar rückgebunden an die Kollegialität der Bischöfe, zugleich aber werden die Dogmen des Ersten Vatikanischen Konzils bekräftigt. Kritiker des jüngsten Konzils haben von zwei gegenläufigen Kirchenverständnissen – Ekklesiologien – gesprochen. In der Tat steht das altkirchliche Modell der Communio, der Gemeinschaft, neben einer hierarchisch gestuften Sicht von Kirche.
Peter Neuner sieht bereits bei Paul VI. verhängnisvolle Nachwirkungen des Ersten Vatikanums. Der Montini-Papst habe dem Konzil die Diskussion über den Zölibat autoritativ entzogen und in der Enzyklika „Humanae Vitae“ gegen das Mehrheitsvotum der Experten ein Verbot künstlicher Verhütungsmittel ausgesprochen. Auch bei Johannes Paul II. findet er klare Anzeichen einer zentralistischen Amtsführung. Im Kirchenrecht von 1983 werden synodale und kollegiale Elemente durchgängig der päpstlichen Autorität unterworfen. Der sogenannte Weltkatechismus unterstreicht den unbeschränkten Primat des Papstes. In der Politik der Bischofsernennungen habe sich der polnische Papst wiederholt über ortskirchliche Regularien hinweggesetzt, auch habe er die Freiheit der Theologie eingeschränkt und dazu das römische „Nihil obstat“ (Nichts steht dagegen) als Disziplinierungsinstrument gegen eine Berufung unliebsamer Theologen auf Lehrstühle genutzt.
Bei Benedikt XVI. sieht Neuner ebenfalls den langen Schatten des vorletzten Konzils am Werk. Der Autor führt unter anderem Ratzingers These vom zeitlichen und ontologischen (seinsmäßigen) Vorrang der Universalkirche vor den Ortskirchen an und erwähnt die Aufhebung der Exkommunikation der traditionalistischen Bischöfe, die lediglich formell die Anerkennung der päpstlichen rechtlichen Vorrangstellung zugesichert hätten, ohne inhaltlich ihre Haltung zum Zweiten Vatikanischen Konzil zu ändern. Erst bei Papst Franziskus ortet Neuner hoffnungsvolle Neuansätze. Dieser habe der Kirche eine „heilsame Dezentralisierung“ verschrieben und gehe durch die Stärkung synodaler Elemente deutlich mit dem Zweiten über das Erste Vatikanische Konzil hinaus.
Nicht nur Schatten
Die deutende Erzählung vom Schatten des Ersten Vatikanums in den Amtszeiten von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. und von der aufgehenden Sonne des Zweiten Vatikanums bei Franziskus hat vieles für sich, fordert aber auch Rückfragen heraus. Kein anderer Papst hat in der Spur des letzten Konzils die dialogische Öffnung zu den anderen Religionen, besonders zum Judentum, so vorangetrieben wie Johannes Paul II. 1986 hat er Vertreter der Weltreligionen nach Assisi zu einem Gebet für den Frieden eingeladen. Im Jahr 2000 hat er in den großen Vergebungsbitten die moralischen Verfehlungen öffentlich eingestanden, um jederlei Triumphalismus zu überwinden und eine „Reinigung des Gedächtnisses“ einzuleiten. Benedikt XVI. hat – fern von einem rein weisungsorientierten Offenbarungsverständnis – die Selbstoffenbarung Gottes als Freundschaftsangebot beschrieben und in seinen Enzykliken über die Liebe und die Hoffnung in einladendem Stil für Grundbegriffe des Glaubens geworben. Pathologien der Religion, die vor Gewalt im Namen Gottes nicht zurückschrecken, aber auch Ideologien, die sich gegenüber der Weisheit der Religionen taub stellen, hat er durch sein Programm einer Synthese von Glauben und Vernunft eindämmen wollen. Umgekehrt hat Franziskus I., als bei der Sondersynode zu Ehe und Familie 2015 laute Dissonanzen hörbar wurden, keinen Zweifel daran gelassen, wer in der Kirche das letzte Wort hat, und sich ausdrücklich auf das Erste Vatikanische Konzil berufen. Zuletzt haben die vatikanischen Einsprüche gegen die ursprünglichen Planungen des „synodalen Wegs“ gezeigt, dass die Sorge um die Einheit der Kirche in Rom nicht vergessen ist.
Peter Neuner hat ein sehr lesenswertes Buch über das Erste Vatikanische Konzil und seine Nachwirkungen geschrieben. Die eingängige Metapher vom langen Schatten hat ihn Kontinuitäten sehen lassen, die sonst so deutlich noch keiner gesehen hat. Dass dabei die Brechungen des Lichts in der Geschichte des Schattens mitunter abgeblendet werden, steht auf einem anderen Blatt.