Dresdner KulturpalastDer Weg der Roten Fahne

Ein Wandbild im Dresdner Kulturpalast erzählt deutsche Geschichte.

© Foto: Thomas Brose

Vierzig Jahre prägte der zweite deutsche Staat das Leben der Ostdeutschen. Aber auch nach Mauerfall und Wiedervereinigung ist sein Einfluss keineswegs verschwunden. Obwohl die Existenz der DDR am 3. Oktober 1990 definitiv endete, wirkt ihre Hinterlassenschaft kräftig auf die politische Gegenwart ein. Das gilt in besonderer Weise für einen Atheismus, der vom Schulanfang bis zum Hochschulstudium, in den sogenannten Roten Wochen, propagiert wurde.

Jede Gesellschaft bringt künstlerische Visionen von dem hervor, was sie von der Zukunft erwartet. Für den Osten Deutschlands lässt sich das beispielhaft am Dresdner Kulturpalast ablesen, der vor fünfzig Jahren seine Tore öffnete. Aus diesem Anlass wurde ein monumentales Wandbild von 30 mal 10,5 Metern in Auftrag gegeben. Seit der Rekonstruktion des Bauwerks 2017 erscheint es in neuem Glanz. Sein Titel lautet „Der Weg der Roten Fahne“.

Wer in den von Martin Sabrow herausgegebenen DDR-„Erinnerungsorten“ nach diesem Motiv sucht, stößt zwar auf „Das Blauhemd der FDJ“ oder den Artikel „Bei der Fahne“, erfährt aber nichts zur Roten Fahne. Dabei besitzt dieses Motiv einen magisch-symbolischen Charakter, dem der Historiker Gerd Koenen („Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus“, München 2017) unter der Überschrift „Die Spur der roten Fahne“ den Anfang seiner großen Darstellung widmet: „Im Sozialismus ist alles rot, die Fahnen, die Banderolen, die Draperien… Rote Ritualobjekte wurden obligatorischer Teil eines jeden feierlichen Zeremoniells, dessen Suggestivkraft gerade in seiner ständigen Wiederholung lag.“ Auf dem Wandbild wird die flatternde Fahne von einer jungen Kommunistin hochgehalten: als Fetisch und Identitätsabzeichen der Macht.

Viele Ostdeutsche können sich lebhaft an Trommeln, Fanfaren, DDR-Emblem und Fahnenappell erinnern. Diese Elemente trugen als emotional aufgeladene Kulisse dazu bei, ein starkes Gefühl zu erzeugen. Auf dem Wandgemälde ist zu lesen: „Trotz alledem: Wir sind der Sieger der Geschichte!“ Überall daneben sind sozialistische Ikonen abgebildet – Vater- und Mutterfiguren, deren Namen damals jedem Erstklässler vertraut waren: Karl Marx und Friedrich Engels, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, Ernst Thälmann mit geballter Faust und der Revolutionär Lenin mit seiner Mütze.

Beim Betrachten des Dresdner Wandbilds kam eine Erinnerung wieder, die mir, dem eifrigen Heimatkundeschüler, erst in der dritten oder vierten Klasse aufgegangen war: dass wir unter der Roten Fahne zum Hass erzogen werden. Eines Tages wurde mir nämlich vom Schuldirektor der Preis für ein „realistisches Kunstwerk“ überreicht. Wann und wie hatte ich sowas bloß zu Papier bringen können? Die Betrachtung der wiederaufgetauchten Tuschzeichnung erfüllte mich mit Scham, war ich doch gerade dabei, mich als junger Christ für Frieden und Gottes großen Schalom zu begeistern. Aber was sah ich da? Unter der Überschrift „Wir schützen unsere Heimat“ hatte ich zu Beginn meiner Schulzeit einen Soldaten mit Gewehr gemalt. Eine Fahne flatterte im Hintergrund, als er seine Feinde abschoss.

Was da einen Siebenjährigen als Ausdruck einer Militarisierungspolitik prägte, hat noch dem Siebzehnjährigen zwiespältige Gefühle bereitet, aber mich auch bewogen, mir den Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ zu besorgen. Diese biblische Mahnung steht im diametralen Gegensatz zur Ideologie der Roten Fahne. Unter anderen Bedingungen, ohne Kirche als Kontrastgesellschaft und ein schützendes Elternhaus, hätte ich das auch werden können: ein kleiner Mitläufer.

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