Ein Tympanon in ChartresMit großer Macht und Herrlichkeit

„Ich bin die Tür. Wenn einer durch mich hineingeht, wird er Heil erfahren“ (Joh 10,9). Kein anderes der Ich-Bin-Worte Jesu ist so oft in Bilder übersetzt worden. Jesus erscheint entweder in Darstellungen auf den Türflügeln oder als Pfeilerfigur am Portal oder darüber im Tympanon wie an der Kathedrale von Chartres.

© Foto: akg-images / Schütze / Rodemann

Wie darf man diesen Jesus bilden? Johannes von Damaskus (um 650–754) schrieb, weil Gott in Jesus von Nazaret Mensch geworden ist und die Augen, die ihn sehen, seliggepriesen hat (Mt 13,16; Lk 10,23), dürfen wir uns mit Bildern an ihn erinnern, uns an ihnen erfreuen und uns mit ihnen trösten, bis er wiederkommt. Über seine Wiederkunft sagt das Evangelium des ersten Adventssonntags: Sie werden den Menschensohn „mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken des Himmels kommen sehen“ (Mt 24,30).

Die Herrlichkeit Gottes umschreibt der Prophet Ezechiel (1,4–28): „Ich schaute und siehe: Ein Sturmwind kam von Norden daher, eine gewaltige Wolke und loderndes Feuer… Aus ihm heraus erschien etwas, das vier lebenden Wesen glich. Ihr Aussehen aber war dieses: Sie hatten Flügel und Menschengesichter, ein Menschenantlitz und das Gesicht eines Löwen nach rechts, ein Stiergesicht und ein Adlergesicht nach links bei jedem der vier. Zwischen den Lebewesen war brennendes Feuer, Blitze zuckten, darüber eine Platte von Bergkristall und Saphirstein und etwas, das einem Throne glich, darauf eine Gestalt, die einem Menschen glich … von Lichtglanz umgeben wie von einem Regenbogen. Das war der Anblick von dem, was der Herrlichkeit des Herrn glich.“

Für Herrlichkeit steht im Hebräischen kabod, im Griechischen doxa, im Lateinischen maiestas oder gloria. Der biblische Text entstand zu Beginn der Babylonischen Gefangenschaft, bald nach 598. Der Priester Ezechiel gehörte zur ersten Gruppe der verschleppten Israeliten. Sein Gottesbild überbietet die Götterbilder der Babylonier. Darauf bezieht sich später dann die Offenbarung des Johannes (4,2): „Ein Thron stand im Himmel, und der darauf saß, war wie Jaspis- und Sardisstein anzusehen, und ein farbenreicher Strahlenbogen war rings um den Thron, anzusehen wie Smaragd…Vor dem Thron war es wie ein gläsernes Meer, gleich einem Kristall, und rings um den Thron sind vier Wesen… Das erste Wesen ist gleich einem Löwen, das zweite Wesen gleich einem Stier, das dritte hat ein Gesicht wie das eines Menschen, und das vierte ist gleich einem fliegenden Adler. Von den vier Wesen hat jedes sechs Flügel… Ohne Aufhören rufen sie Tag und Nacht: Heilig, heilig, heilig ist der Herr, Gott, der Allherrscher, der war und der ist und der kommt.“

Die vier Wesen an Gottes Thron sind hier als Mensch, Löwe, Stier und Adler gekennzeichnet, nicht als Wesen mit vier Gesichtern. Der Kirchenvater Irenäus (etwa 135–200), den die Ostkirche nach seinem Geburtsort „von Smyrna“ (heute Izmir), die Westkirche nach seinem Bischofssitz „von Lyon“ nennt, hat die vier Wesen gedeutet. In seiner Theologie steht die Einheit im Vordergrund, die Einheit Gottes, die Einheit der beiden Testamente, die Einheit von Gott und Welt. Er schrieb: Der Architekt des Weltalls, der Logos, der auf dem Thron sitzt, hat uns sein Evangelium viergestaltig übergeben. Die Evangelien stimmen mit den vier Wesen an Gottes Thron überein.

Der Kirchenvater Hieronymus hat diese Zuordnung aufgenommen. In Bildern erhielten die vier Wesen Bücher in ihre Hände, Klauen oder Hufe und wurden zu Symbolen der Evangelisten. So hat der Bildhauerarchitekt des Königsportals von Chartres nach 1145 den in Macht und Herrlichkeit wiederkommenden Christus gebildet (Foto rechte Seite). Zwischen die beiden Türme der Kathedrale ist eine Front aus drei Portalen gespannt. Das rechte zeigt die Menschwerdung Gottes, Christus auf dem Schoß seiner Mutter, das linke die Himmelfahrt Christi, das mittlere seine Wiederkunft. Die Mandorla, der geknickte Kreisbogen um seine Gestalt, deutet den Lichtglanz eines Regenbogens an, wie ihn Ezechiel in vielen Farben beschreibt. In malerischen Wiedergaben der Wiederkunft, als Wandmalerei in Apsiden und als Buchmalerei, oder als Goldschmiedearbeit auf Buchdeckeln ist der farbige Glanz der Herrlichkeit Gottes mit großem Aufwand gespiegelt. Auch die Portale der Kathedralen waren farbig gefasst. Doch seit Jahrhunderten stehen sie steinsichtig in Wind und Wetter.

Zwölf Apostel sind als Beisitzer des Gerichts (Mt 19,28) im Türsturz dargestellt. Ihnen sind außen zwei Himmelsbewohner zugeordnet: Henoch (Gen 5,24) und Elias (2 Kön 2,11). Engel und 24 Älteste mit Harfen und Weihrauchschalen vervollständigen das Programm. Doch bevor das Tympanon als Programm zu lesen ist, ist es Skulptur und Architektur, behauene Steine, gefügt und verbaut als Bekrönung eines Portals. Im Vergleich mit älteren und jüngeren Darstellungen desselben Themas etwa in Autun, Dijon, Le Mans und Angers wird deutlich, dass es sich im Westportal von Chartres um einen Höhepunkt europäischer Skulptur handelt. Die ausfahrende Bewegung von Löwe und Stier, als ob sie weglaufen wollten, ist zurückgebunden durch die zur Mitte gewendeten Köpfe und die gespreizten Flügel. Die Bücher zwischen ihren Tatzen beziehungsweise Hufen hindern sie nicht in ihrem Lauf. Die Beweglichkeit ist in einen strengen Aufbau eingefügt. Die Federn der Flügel sind wie das Fell des Löwen durch parallele Reihen von Buckeln und Schichten angedeutet. Der Kopf des Löwen mit offenem Rachen weist auf wehrhafte Kraft. Er folgt einer romanischen Bildtradition, keinem Vorbild der Natur. Für den Menschen, auch er geflügelt, und den Adler bleibt im spitz zulaufenden Bildfeld weniger Platz. Beide sind mit ihren Körpern der Mitte zugewandt, wo das Spitzoval der Mandorla den Lichtglanz um den Thronenden andeutet. Sein Kopf, hinterlegt von einem Kreuznimbus, wächst groß über die Spitze der Mandorla hinaus. Das Gesicht, umrahmt von welligem Haar und kurzen Bartlocken, wirkt ernst und groß. Der auf dem Thron ist in eine Tunika gekleidet, über der eine Toga auf die Schultern gelegt und um die Hüfte geschlungen ist. Die Tücher umwickeln in feinen Parallelfalten straff den Körper. In der linken Hand, die auf das Knie gelegt ist, hält er ein Buch, einen Codex, mit einer Schließspange. Die rechte Hand ist hoch erhoben. Da die Finger abgebrochen sind, kann der Gestus nicht mit Sicherheit bestimmt werden: Urteil, Trennung der Schafe von den Ziegen, oder Segen?

Der Bildtyp der „Majestas Domini“, des über den vier Wesen in einer Mandorla thronenden Menschensohns, erschien zum ersten Mal um 1100 in der Abteikirche von Cluny an einem Portal. Ab 1170 wurde er zu einem Weltgericht abgewandelt: Tuba blasende Engel, Selige, Verdammte und Teufel traten hinzu. Maria und Johannes der Täufer wurden als Fürbitter eingeführt, die Zeichen des Menschensohnes, die „Arma Christi“ (Passionswerkzeuge), erschienen auf Wolken, kluge und törichte Jungfrauen, Ecclesia und Synagoge erweiterten das Bild, zum Beispiel am Südportal in Chartres um 1210 oder am Bamberger Dom. Aber wer durch das Westportal die Kathedrale von Chartres betritt, kommt selbst unter den Richterstuhl. Es wird ihm nicht gezeigt, wie andere – Bischöfe, Könige, Geizhälse – gerichtet werden. Er hat die Hoffnung: Wer durch diese Tür eintritt, findet das Heil.

Die gotischen Kathedralen, unter denen die von Chartres eine der schönsten und am besten erhaltenen ist, gelten als Hauptleistung des christlichen Abendlands. Ihre Bildsprache wurzelt im Alten Orient. Die Thronvision des Ezechiel überbietet die Götterbilder Babylons, liefert die Bilder für die Offenbarung des Johannes und unserer Kathedralen.

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