Vergeht uns langsam das Gehen? Das zumindest muss annehmen, wer den Siegeszug des Fahrens näher in den Blick nimmt. Ob mit Fahrrad, Tandem, Roller, Segway, Skateboard, ob mit Auto, Motorrad, Straßenbahn, Bus, S-Bahn oder Fernzug: Der zivilisatorische Erfolg radbetriebener Fortbewegungsmittel, der auch der Zweckmäßigkeit, große Entfernungen rasch zu überwinden, geschuldet ist, ist kaum aufzuhalten. Die Schweizer Journalistin Claudia Mäder hat in der „Neuen Zürcher Zeitung“ diese Tendenz so gekennzeichnet: „Immer mehr Leute benutzten Eisen- oder Straßenbahnen, etliche sattelten aufs Velo um, und als das Auto für die Masse erschwinglich wurde, verkamen die Fußgänger auf den Straßen … zur Randerscheinung.“
In manchen Weltgegenden mag diese Entwicklung durchaus anders und langsamer vonstattengehen – nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen. Doch grundsätzlich hat das Fahren heute eine alltäglichere Wertschätzung als das Gehen. Man frage nur mal einen Zeitgenossen, ob er einen halben Kilometer Wegstrecke – und sei es nur zum Kirchgang – lieber zu Fuß oder mit einem Fahrzeug zurücklegen will; die Mehrheit würde wohl eher zum Fahren neigen.
Die Sünde Sitzfleisch
Im Zeitalter der Geschwindigkeit, das die Menschheit zu neuen Ufern führen soll, wird das Fahren beständig weiterentwickelt, vor allem im Bereich des motorisierten Individualverkehrs. Nicht mehr weit entfernt soll, glaubt man den Fachleuten, das fahrerlose Fahrzeug sein. Elektromobile gewinnen an Zuspruch, wenn auch eine Anschaffung für die Mehrheit der Bevölkerung an der noch zu geringen Ladekapazität der Batterien und den vergleichsweise hohen Fahrzeugpreisen scheitert. Das Fahren ist die Norm.
Und zugleich ist es zivilisatorisch in der Kritik. Stauforscher, Verkehrsfachleute und Soziologen reden schon lange einer Begrenzung des automobilen Fahrens das Wort und geraten mit Wirtschaftsfachleuten in Streit, die in dieser Industrie unverzichtbare Arbeitsplätze sehen. Aber längst ist klar: Wir können hierzulande aufgrund der dichten Besiedlung nicht unbegrenzt Autos produzieren und auf die Straßen bringen. Der Kollaps ist möglich. Die jüngste Debatte über Geschwindigkeitsbegrenzungen auf deutschen Autobahnen, um die hoch gesteckten Klimaschutzziele zu erreichen, zeigte deutlich, wo die Konfliktlinien liegen. Das Autofahren ist Ausdruck persönlicher Freiheit und zugleich ein Knackpunkt der Umweltschutzbewegten.
Der französische Philosoph Pascal Bruckner hat im „Philosophie Magazin“ kritisiert, die Alltagserfahrung der meisten Leute sei es hingegen, „eingepfercht“ zu sein. „Einen großen Teil unserer Zeit verbringen wir in rollenden Kisten. In korrekter Haltung sind wir hintereinander in unseren Sitzen ausgerichtet, eingeschnürt in Gurte, und sehen unseren Körper auf seine organischen Funktionen reduziert. Wir sind Gänse, die gestopft werden, damit sie schläfrig werden.“ Diese Trägheit geißelte bereits der Spötter und Kritiker Friedrich Nietzsche scharf mit den Worten der Religion: „Das Sitzfleisch ist die eigentliche Sünde wider den Heiligen Geist.“ Also doch wieder zurück zum Gehen, zur Fortbewegung auf den Füßen, damit inmitten der Ära der Geschwindigkeiten der Körper einen Moment der langsamen Freiheit erfährt?
Claudia Mäder beobachtet, dass gerade, als sich im Zuge der Aufklärung die Welt rasant veränderte und auch neue Arten der Fortbewegung entstanden, auf einmal „die alte Sache Gehen“ zum großen Thema wurde. Nur was rar ist, kann auch angesagt sein, meint sie. Der Pädagoge Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) lobte den Spaziergang und kritisierte spöttelnd die Auswüchse der Zivilisation seiner Zeit: das wachsende Übel der Kutschfahrten. Denn der dekadente Adel ließ sich seiner Ansicht nach nur träge in der Gegend herumfahren. Ein aufrechter Bürger jedoch nehme sein Leben selbst in die Hand beziehungsweise gehe die Wege mit seinen eigenen Füßen.
Humanität Wandern
Der Dichter Johann Gottfried Seume (1763–1810), der eine Reise nach Syrakus auf Sizilien zu Fuß unternahm, pries den menschlichen Gang als „das Ehrenvollste und Selbstständigste in dem Manne“, das Ausdruck seiner Humanität sei. Die Bewegung „in die weite Welt hinaus“, das Wandern, war ein Bedürfnis nach Begegnung mit der Natur. Die Philosophin Thea Dorn hat dies – ebenfalls im „Philosophie Magazin“ – als „Ersatzgottesdienst an der frischen Luft“ gedeutet. Solche Entschleunigung hat heute wieder Konjunktur. Da gibt es beispielsweise jene, die täglich ihre Schritte elektronisch auf ihrer Uhr zählen lassen, um damit ihre Fortschrittlichkeit zu zeigen. Claudia Mäder meint: „Je weiter ein Land entwickelt ist und je höher die Einkommen steigen, desto weniger bewegen sich seine Einwohner“ – gemeint ist die körperliche Bewegung. Sind wir im Westen also – aufgrund unserer voranschreitenden technischen Entwicklung und unseres Reichtums – auf dem Weg zum Stillstand? Doch wohl eher nicht, lenkt man die Aufmerksamkeit auf die Scharen der Wandernden.
Deutschland ist ein Wanderland. Die Leidenschaft körperlicher Bewegung in den Landschaften wird hierzulande von vielen geteilt. Die Wanderlust, so Thea Dorn, gehöre zu den wichtigsten Merkmalen der Deutschen. Es liege uns im Blut, weil das Christentum in Germanien erst später als anderswo ankam und die alten heidnischen Vorstellungen, dass in jedem Baum ein Gott sitzt, noch lange nachwirkten. Diese Wander- und Naturliebe komme „aus dem Wald“. „Ich glaube, die Deutschen haben den biblischen Sündenfall für sich stets so übersetzt: Die Sünde liegt nicht darin, nach Erkenntnis zu streben. Die Sünde liegt darin, Natur unterjochen zu wollen.“
Der Freizeitbeschäftigung Wandern ist derzeit eine Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg gewidmet: „Wanderland. Eine Reise durch die Geschichte des Wanderns“. Die „Frankfurter Allgemeine“ hat die kulturhistorische Schau soeben in einer Besprechung gelobt. Die Ausstellung sei derart vielfältig, dass der Besucher auch nach der letzten Station mit seinen Wander-Gedanken immer noch nicht an ein Ende gelangt. Verglichen wird sie mit der Ausstellung „Wanderlust“, die im letzten Sommer in der Berliner Alten Nationalgalerie gezeigt wurde. Diese befasste sich vor allem mit der im Verlauf des 19. Jahrhunderts gewandelten Naturdarstellung in der Kunst. In Nürnberg hingegen geht es um das Konzept des Wanderns im Alltag, um Gründe für den Aufbruch zu Fuß ebenso wie um die sich entwickelnde Industrie, die aus dem Wandern ein Geschäft macht und die Infrastruktur dafür bereitstellt. Welche Spuren eigentlich hat das Wandern in der Kultur hinterlassen, auf unterschiedlichen Ebenen, nicht zuletzt in der Kunst?
Wandermeetings im Silicon Valley
Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang die soeben zu Ende gegangene Ausstellung „Der Flaneur“ im Bonner Kunstmuseum. Ein Flaneur ist ein Wanderer durch die Großstadtwelten. Indem er durchs urbane Leben streift (flanieren = durchstreifen) und dieses intellektuell bedenkt, es kritisch verinnerlicht, macht er sich ein Bild von der Welt. Als Weltenbummler beobachtet er oder distanziert sich. Im 19. Jahrhundert war der Flaneur ein wichtiges Thema der Kunst, ja der Lebenskunst.
So wurde das mondäne, auch das dandyhafte großstädtische Gehen vor allem in der Malerei, aber auch von der Literatur gewürdigt und hinterfragt. Die Gebrüder Grimm haben sich in ihrem Wörterbuch der deutschen Sprache beim Begriff „gehen“ – allein dieser Eintrag umfasst dort hundert Spalten – etwas resigniert dazu geäußert, dass der Begriff der Bewegung dauernd vom „Sinnlichen oder Sichtbaren ins Gedachte, nur Empfundene“ übertragen wird. Er sei unmöglich vollständig darzustellen. Aufs Neue wurde darüber nachgedacht, dass zwischen Leben, Denken und Gehen eine geheimnisvolle Beziehung besteht.
Inzwischen hat das auch die Hirnforschung bestätigt. Empirische Studien aus der amerikanischen Universität Stanford belegten: Um sechzig Prozent nehme der kreative Anteil des Denkens bei einem Menschen zu, wenn er geht statt sitzt. Diese Erkenntnis machen sich gewiefte Wirtschaftsleute zunutze. Bei Apple, Twitter oder Amazon halten die Digitalerfinder und Elektroniktüftler ihre Sitzungen als Wandermeetings ab, um beim Gehen neue Ideen zu entwickeln. Es mutet ein wenig absurd an: Im Silicon Valley konzentrieren ein paar Köpfe ihre Schaffenskraft beim Spazieren – um hernach die Welt mit Ideen zu füllen, welche die Menschen an irgendeinen Bildschirm binden.
Im „Philosophie Magazin“ hat der Hirnforscher Gerd Kempermann allerdings davor gewarnt, dem modernen zivilisierten Menschen ein Nachlassen seiner Denkfähigkeit zu bescheinigen, nur weil er oft auf der Couch oder am Schreibtisch sitzt. Die Zusammenhänge seien komplexer, vieles sei einfach noch nicht bekannt. Grundsätzlich gilt: „Gehirne entstehen gleichzeitig mit der Fähigkeit der räumlichen Bewegung. Gehirne, oder präziser gesagt Nervensysteme, kommen in der Evolution auf, um Bewegung zu ermöglichen.“ Anders gesagt: Nervensystem und Bewegungsfähigkeit gehören zusammen. In diesem Sinn sei das Gehirn entstanden, „damit wir uns bewegen können“.
Umgekehrt hilft Bewegung, das Gehirn und das Denken zu aktivieren. Gerd Kempermann erwähnt seine Gewohnheit, im Zimmer auf und ab zu gehen, wenn er beim Schreiben nicht mehr weiterkommt. Damit ließen sich Denkblockaden lösen. Gehen ist dem Denken zuträglich. Es gibt allerdings auch das umgekehrte Phänomen. Der Berliner Hirnforscher Ulman Lindenberger ließ Leute auf dem Laufband schwierige Navigationsaufgaben lösen. „Und die Beobachtung war, dass vor allem ältere Leute, wenn etwas zu schwierig wird beim Nachdenken, die Tendenz haben, stehen zu bleiben … Es scheint also einen Ressourcenkonflikt zu geben: In gewissen Momenten zieht das Gehen zu viel Energie ab, um einen Gedanken noch klar zu fassen.“
Antike Philosophen unterhielten sich lustwandelnd in Säulenhallen. Die kontemplativen Orden hatten für das private stille Beten den Kreuzgang, wo sich der Mönch gehend mit Leben, Leiden und Sterben Christi identifizierte. Im Leben einer Pfarrgemeinde gibt es Prozessionen und Wallfahrten. Sie sind Ausdruck des durch die Zeiten wandernden Gottesvolks. Gehen ist Beten. Und Beten ist Gehen. Auch im Zenbuddhismus kennt man das meditative bewusste Gehen im Schweigen, um der Erleuchtung willen, Kinhin genannt.
Religiöses Gehen wird gemeinhin Pilgern genannt. Neulich meldete das spanische Pilgerbüro in Santiago de Compostela, wo laut kirchlicher Tradition der Apostel Jakobus begraben liegt, dass im letzten Jahr erneut ein Rekord an Besuchern zu verzeichnen war: an die 300000 Leute. Vom Entertainer Hape Kerkeling, der die pilgernde Wanderung dorthin in seinem Bestseller „Ich bin dann mal weg“ so anschaulich beschreibt, ist zu erfahren, wie die seelische Grundstimmung der Jakobspilger sich gewandelt hat: War es bis vor einigen Jahrzehnten noch der Glaube, durch das betende Gehen in Schweigen und Sammlung seine Sünden erlassen zu bekommen, so steht heute eher das tagelange Marschieren im Mittelpunkt, der Ortswechsel, der einen kurzzeitig vom langen, alltäglichen sträflichen Sitzen im Büro befreit. Eine Auszeit.
Wunderbares Gehen
Aber irgendwie fügt sich das alles doch ineinander. Viele Sätze der Evangelien beginnen mit den Worten „und Jesus ging …“: nach Galiläa; am See entlang; an einen einsamen Ort, um zu beten; in die Synagoge; auf einen Berg; auf dem See und so weiter. Das Gehen ist dem Wanderprediger aus Nazaret zutiefst zu eigen. Und immer die Unterbrechung bei den Menschen: im Streitgespräch, in der Tröstung, beim Heilen, im Gebet, in der Einsamkeit. Jesus ist das Urbild des Homo viator, des Menschen auf dem Wege, der seinem Zuhause Wochen oder Monate fernbleibt. Sein Weg ist eine pausenlose Verehrung Gottes, ein langes Gebet, das vom Körper ausgesprochen wird. Es hat eine tiefe Weisheit, dass die ersten Christen in der Apostelgeschichte als Anhänger „des Weges Jesu“ bezeichnet wurden (9,2). Sie gedenken am Herrentag dieses Weges Christi, der über Sterben, Leiden und Tod zur Auferweckung führt, zur Überwindung des Todes und alles Todbringenden. Pascal Bruckner fasst es in seine Worte: „Wir wollen das Gehen feiern, das vielleicht die moderne Form des Wunderbaren darstellt: Nur das Gehen kann uns noch hinaus auf die Straße bringen, es treibt zahllose ungewöhnliche Blüten und lässt uns die Freuden der niederen Geschwindigkeit wiederentdecken.“ Vielleicht kommt daher auch im Deutschen (und Französischen) die Antwort „Es geht!“ auf die Frage nach unserem Befinden.